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VorlaufKonflikt zwischen Kilowatt und Kultur

■ Die Daugava

(Die Daugava, Sonntag, ARD, 23 Uhr 20) Es fing alles mit einem Beitrag des Journalisten Dainis Ivans und des Prosaikers Arturs Snips im sowjetlettischen Kultur –Wochenblatt 'Literatura un Maksla' (17.10.1986) an. Die beiden Autoren wiesen nach, daß der beabsichtigte Bau eines Wasserkraftwerks auf der Daugava bei Daugavpils nicht nur unübersehbare Schäden an der Umwelt nach sich ziehen würde, sondern sich nicht einmal ökonomisch rentiert, und daß das Vorhaben deshalb kaum mehr als eine Chimäre technokratisch –industrieller Planungs-Gigantomanie, ein in selbstherrlichen Ministerien ausgebrütetes Teufelsei sei.

Der Artikel von Ivans und Snips löste in Lettland eine unerwartete Welle öffentlichen Widerstands aus; es mobilisierte sich ein bis dahin stets beiseite gedrängter ökologischer und in Gesamtzusammenhängen operierender wirtschaftlicher Sachverstand, der den Planern zu guter Letzt nur das magere Argument übrig ließ, man müsse bauen, weil es nun einmal so beschlossen sei.

Anfang November 1987 gab die Regierung in Moskau nach und stellte das Projekt endgültig ein: Es versank, wenn man so will, in der Flut von über 30.000 Protest-Unterschriften. Die massenhafte Auflehnung gegen das Kraftwerk geriet zur Schulstunde der neuen sowjetischen Demokratie, zum Muster für reale Perestroika.

Parallel zur Kampagne gegen das Kraftwerk bei Daugavpils begann ein Team des Lettischen Fernsehens um den Regisseur und Kameramann Rodrigo Rikards den Zuschriften nachzugehen, in denen die Bevölkerung ihre Ablehnung des Vorhabens geäußert hatte. Was es dabei zutage gefördert und in seinem Film festgehalten hat, ist der Konflikt zwischen materieller Zivilisation (was is'n das?, d. s-in) und kulturellen Werten, zwischen Kilowatt und einer ganzen Lebensweise, in der der bedrohte Fluß einen festen Platz einnimmt: ökologisch, kulturhistorisch, verankert im kollektiven Bewußtsein eines oft genug von stärkeren Mächten überrollten kleines Volkes.

Diese Sichtweise macht auch den außergewöhnlichen Reiz des Streifens aus. Er erzählt keine eigene „Geschichte“, sondern berichtet über einen gesellschaftlichen Vorgang, der jedoch nicht als solcher zu Protokoll gegeben, sondern an dem Gefühl von Verlust gemessen wird, den er unmißverständlich androht. Während die Stimmen der Betroffenen, Zitate aus ihren Briefen, aus dem Off ertönen, treiben ihre Photos in der Daugava dahin. Oder wird da aus dem Strom, ohnehin ein uraltes Symbol des Lebens, Kraft zum Widerstand geschöpft?

Verlust-Meldungen auch in den Gesprächen vor der Kamera die Archäologin, die Botanikerin, der Insektenforscher, die Hydrobiologen, sie alle lassen keinen Zweifel daran, daß der Bau des geplanten Kraftwerks vieles unwiderruflich schädigen oder zerstören würde: Kulturdenkmäler, eine einzigartige Flora und Fauna, die Regenerationsfähigkeit des Flusses und damit auch letzten Endes die Gesundheit von Mensch und Umwelt.

Und vieles ist bereits verlorengegangen. Einmontierte Archivaufnahmen belegen, daß das Pathos, mit dem unter einem rechtsautoritären Regime Ende der dreißiger Jahre das erste Kraftwerk auf der Daugava gefeiert wurde, sich nahtlos in die Nachkriegsjahre und den Bau von zwei weiteren Staudämmen hinübergerettet hat. Ob Kapitalismus oder Sozialismus, stets hat die Parole gelautet: „Fortschritt durch Elektrizität, koste es, was es wolle.“

In den Fluten verschwunden: der einst 18 Meter über dem Wasserspiegel aufragende Fels Staburgs, ein romantischer Treffpunkt unzähliger Liebespaare, oder die Stromschnellen, über die vor 50 Jahren Flößer in halsbrecherischer Fahrt ihre Fracht ins Tal steuerten. Auch die Lebensweise dieser Männer, ihre eigenartige Kultur nur noch eine Erinnerung, vorgetragen von alten Leuten. Wo einst die Wasser tobten, da stinken in den Stauseen die Algen gen Himmel.

Die emotionale Wucht des Fernsehbeitrages Die Daugava rührt daher, daß er nicht distanziert ablichtet, sondern mittels filmischer Gestaltung die Betroffenheit jener Menschen dokumentiert, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Fluß verbunden fühlen. Ausgespart bleibt dabei nicht einmal das versteinerte Gesicht des Projektleiters, der auf einer Anhörung zu „seinem“ Kraftwerk harsche wissenschaftliche Kritik an dem Vorhaben zu hören bekommt. Nein, tut der Technokrat bei dieser Gelegenheit kund, damit, was ihm da an Protest entgegenschlage, könne doch nicht Perestroika und Glasnost gemeint sein... Irren ist menschlich, aber in diesem Fall hat es ein bedrohtes Stück Umwelt gerettet.

Ojars J. Rozitis

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