Vorlauf: Die „Clever“ sechs Stunden pur
■ Hans Jürgen Syberbergs Film „Die Nacht“
(Hans Jürgen Syberbergs Film „Die Nacht“, 3Sat, 16.12., 22.20 Uhr) Müde werden die Zuschauer sein, wenn sie nach sechs Stunden um 4.20 Uhr Edith-Clever-trunken ins Bett fallen. So lange dauert Hans-Jürgen Syberbergs Film „Die Nacht“, ein Abgesang auf die europäische Kulturtradition und den Untergang des Abendlandes, der am 8.5.1985 in Berlin uraufgeführt wurde. Zur Musik von Bach und Wagner monologisiert Edith Clever, vor Jahren die Nummer eins in Peter Steins Schaubühnen-Truppe, Texte von Goethe, Nietzsche, Novalis, Wagner, Hölderlin und Beckett. Müde war auch A.W. von der taz, als er den Filmsaal 1985 bei den Filmfestspielen in Cannes um halb vier, zweieinhalb Stunden früher, verließ. Aber, trotz aller Vorbehalte – er kann Edith Clever nicht ausstehen – war er, wie viele Kultur- und Theaterkritiker, begeistert. Er schrieb:
„Es wäre alles so einfach; so einfach zu kritisieren. Wenn dieses Nichts, dieser handlungslose Krüppel mich nicht fasziniert, mich nicht ganz in Beschlag genommen hätte.
Worauf beruht die Faszination? Sie begann erst mit dem ersten Akt. Das Vorspiel triefte vor Bedeutung.
Edith Clever trägt da die Rede des Indianerhäuptlings Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten vor. Eine hoffnugslose, darum ergreifende Rede. Eine Abrechung mit der Zerstörungswut des Weißen Mannes. Edith Clever als Indianer. Sie sah aus wie einer, aber das änderte nichts am falschen Pathos des Vorspiels. Syberberg fügt der Indianerrhetorik die eigene hinzu. Seattle betrauert den Tod der Sioux und der Komantschen, die hingemordet wurden für die zentralisierende, monopolisierende bleichgesichtige Rationalität, Syberberg den der Schlesier, Ostpreußen und Juden. Und den der Franzosen, Engländer, Italiner und Deutschen, die und deren Sprachen und Kulturen ebenso verschwinden werden – zwischen den Blöcken – wie die Iowas, die Irokesen und Apatschen.
Vorgetragen im traditionellen Edith-Clever-Ton. Das exaltierte Getue, die affektierten Kickser an den Wortenden, die schmale, ausgewalzte Skala der Cleverschen Manierismen.
Doch dann, mit dem ersten Akt, ist das alles weg. Edith Clever spielt. Sehr ruhig und sehr konzentriert ohne allen Schnickschnack.
Dazu die Farben. Ja, die Farben. Im Schwarzweiß-Film. Modulationen in Grau. Das Gesicht ein lebender, atmender Stein.
Sie singt. Brüchig, unfähig, einen Ton zu halten. Den Tristan. Umwogt vom Riesenorchester, die Stimme verloren im Meer der Instrumente und doch immer wieder da. Ergreifender als Birgit Nilsson. Jedenfalls etwas ganz anderes, ebenso Großartiges.
Dem kontrastieren Wagners Texte. Meist Belanglosigkeiten aus seinen Briefen an Cosima. Ausschweifende Auslassungen über seine Lieblingsparfums, die ganze Skala der Kammerdienerperspektive wird ausgespielt. Gegen die Musik und ihre atemberaubende Faszination.
Auch gegen die Kamera. Ganz ohne Schnitte der Film. Auf und Abblenden bestimmen den Rhythmus.
Dazwischen die Widerhaken Wagnerscher Widerwärtigkeiten. Die abstoßenden antisemitischen Äußerungen über Meyerbeer. Ein Gemenge, ein Strudel, ein saugender Mahlstrom.“
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