■ Vorgespult: Cascando
Hörspiel von Samuel Beckett, heute, 22.05 Uhr, BR 2
Warum sich das Radio oft vor Neuinszenierungen alter Hörspiel- Meister drückt, muß mir mal jemand erklären. Natürlich hat das Hörbild aus dem Archiv seine Berechtigung – aber ebenso die patinafreie Fassung ...
Auch Beckett meinte vor zehn Jahren zur US-Radiostation „Voices International“, ein „fresh go“ könnte seiner Radiokunst nicht schaden. Und endlich macht der BR das Hörspielwerk – technisch aufdatiert – auch auf Deutsch zugänglich (siehe taz vom 9.6.95). In Cascando geht es wie immer ums Essentielle – ums Geschichtenerfinden als (Über)Lebensform. Eine Stimme kreist ihre Story ein: „Für mich ist Mai ... Geschichte ... könntest du sie beenden ... hättest du Ruhe ...“ Es ist das bei Beckett vertraute Sprachgerangel mit der Existenz. Nur diesmal eindeutig ins Innere eines Bewußtseins verlegt. The same but different – lautet Becketts ästhetisches Prinzip.
Ganz so, als hätte Diener Clov den alten Hamm im „Endspiel“ tatsächlich verlassen, spinnt ein nun einsamer Kopf seine Erzählung weiter. Die Protagonisten dieses dreistimmigen Stückes sind also, streng genommen, nur einer – gespalten in Öffner, Stimme (beide Otto Sander) und Musik. Der Öffner könnte natürlich Dichter sein. Oder abstrakter: die Vernunft, die sich bemüht, den Fluß von Sprache und Musik schöpferisch zu steuern. Der Öffner schickt die Stimme ins Krisengebiet der Erinnerung. Da beschwört und beobachtet sie einen Mann. Er schleppt sich durch eine ironische Landschaft. Steht, stürzt, berappelt sich.
Von Anfang an hat das Hörstück einen starken visuellen Sog, so daß wir die Figur fast wie in Zeitlupe vor Augen haben. Oder, wenn Stillstand erzählt wird, wie eine Skulptur des Beckett-Freundes Giacometti. Immer wieder schaltet der Öffner Musik dazu, um die Suggestionskraft der Szene zu erhöhen. Doch Sprache und Musik verweigern sich der Vernunft und entgleiten ihr in écriture automatique. Stefan Hardt, der Regisseur und Komponist des neuen „Cascando“ erledigt den fresh go der Tonstücke gut. Ohne Kniefall vor dem Meister und ohne überflüssigen Schnickschnack.Gaby Hartel
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