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Archiv-Artikel

press-schlag Voranschreitende Kahnwerdung

Jens Lehmann hat einen entscheidenden Fehler gemacht. Er weiß, dass ihm das als Torwart eigentlich nicht passieren darf

Es war am 9. November des Jahres 2002. Ein Pfiff hallte durch das Münchner Olympiastadion. Jens Lehmann war stinksauer. Er lief in der 67. Minute des Spitzenspiels in der Fußballbundesliga zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München auf Schiedsrichter Michael Wiener zu, als wolle er ihn lynchen. Der ließ sich das nicht gefallen. Lehmann sah die Gelb-Rote Karte. Für den Torwart war dies der vierte Platzverweis in seiner Karriere. Am Mittwoch wurde Deutschlands Nummer 1 bereits zum siebten Mal in seiner Laufbahn vom Platz gestellt. Dagegen ist Oliver Kahn ein wahrer Musterknabe. Er wurde erst dreimal des Feldes verwiesen. Das letzte Mal vor gut fünf Jahren. Was bedeutet das für die Weltmeisterschaft? Ist Lehmann ein Sicherheitsrisiko? „Vorteil Kahn!“, hieße es sicher, wenn die Torwartfrage nicht schon entschieden wäre.

Doch die Würfel sind lange gefallen. Lehmann hat Kahn als Nummer 1 abgelöst. Das Finale von Paris hat gezeigt, dass er auf dem Weg ist, selbst zum Kahn zu werden. Vor vier Jahren erfing sich Torwart Kahn bei der WM in Japan und Südkorea den Titel „Titan“. Ohne seine Paraden wären die Deutschen früh aus dem Turnier ausgeschieden. Im Finale dann hätte die DFB-Elf gegen Brasilien durchaus eine Chance gehabt, wenn nicht ausgerechnet der Titan zum Vorlagengeber für den Doppeltorschützen Ronaldo geworden wäre.

Auch Jens Lehmann hat in dieser Champions-League-Saison dem FC Arsenal mit seinen Paraden zum Einzug ins Finale verholfen, wo dann sein Fehler letztlich dazu geführt hat, dass der FC Barcelona als Sieger vom Platz im Stade de France gegangen ist. Als Torwartdarsteller ist Lehmann in Paris endgültig zum Kahn geworden. Während der Siegerehrung schlich er mit versteinerter Miene über den Platz. Unnahbar wirkte er – so wie Oliver Kahn nach dem WM-Finale 2002: ein am eigenen Ehrgeiz gescheiterter Heldendarsteller.

Kahn erlebte nach seinen Fehlern, die die Deutschen zu Vizeweltmeistern gemacht haben, eine tiefe Sinnkrise. Er redete vom Druck, der auf ihm laste, aber auch davon, dass es ihm immer schwerer falle, Spannung aufzubauen. Er gab zu, Motivationsprobleme zu haben. Er setzte sich auf seinen rotblonden Erwachsenenkopf lächerlich wirkende Designer-Sonnenbrillen auf, verließ seine Frau, die gerade niedergekommen war, und trieb sich nächtens in Vergnügungslokalen herum, wo er eine neue, junge Liebe fand. Und Jens Lehmann? Wie wird er seinen Fehler verarbeiten? Gerät auch er in eine verfrühte Midlifecrisis? Wird er von Stund an nur noch vom Sinn des Torwartlebens reden? Wird dies Deutschland am Ende den WM-Titel kosten?

Es wird sich zeigen, ob die Kahnwerdung Lehmanns auch in dieser Hinsicht zur Vollendung kommen wird. Welche Auswirkungen das dann auf das Abschneiden der Deutschen bei der WM haben wird, darüber kann derzeit nur spekuliert werden.

Fest steht jedoch, dass jedes Spiel durch Torwartfehler entschieden werden kann – auch jedes WM-Spiel. Thierry Henry hat zwei Großchancen nicht nützen können am Mittwochabend. Er hat als Stürmer versagt. Dennoch wird ihm allein kaum einer die Schuld an der Niederlage der Mannschaft geben. Der Torwart ist der Einzige, der allein an der Niederlage eines Teams schuld sein kann. Meistens muss er auch allein damit fertig werden.

ANDREAS RÜTTENAUER