Vorab-Empörung über Philipp Lahms Buch: Charakter heißt jetzt Schweigen
Maul halten, Tore schießen - so stellen sich die Herren des Fußballs einen Profi vor. Diesem Bild entspricht Philipp Lahm nicht, denn er hat aufgeschrieben, was er denkt.
"Sie können versichert sein, dass er dieses Interview noch bedauern wird." Uli Hoeneß, damals noch Manager des FC Bayern München, hat das im November 2009 gesagt. Gemeint hat er Philipp Lahm. Der hatte in einem Interview gesagt, dem FC Bayern fehle, was andere Spitzenklubs in Europa hätten - ein unverwechselbares System.
Böse, böse! So sauer war darüber sein Klub, dass er ihm eine "empfindliche Geldbuße" aufbrummte und Regeln veröffentlichte, an die sich die Spieler zu halten haben. Eine davon: "Es ist ein absolutes Tabu, in der Öffentlichkeit Kritik gegen den Klub, den Trainer und Mitspieler zu äußern." Fast ganz Fußballdeutschland empörte sich seinerzeit über den FC Bayern und lobte den Kapitän der Münchner als Inbegriff des mündigen Profis.
"Erbärmlich" und "schäbig", so findet der ehemalige Teamchef der Nationalmannschaft Rudi Völler, was über ihn und seine Trainerkollegen Jürgen Klinsmann, Louis van Gaal und Felix Magath in Philipp Lahms am Montag erscheinendem Buch "Der feine Unterschied" steht. Lahm hatte Völlers Training als "lustig", aber "völlig unsystematisch" bezeichnet.
Böse, böse auch das. Das findet jedenfalls Ottmar Hitzfeld, auch einer, der Philipp Lahm einmal bei den Bayern trainiert hat. Er hält Lahm für schlecht beraten. Der Deutsche Fußballbund ist auch schon dabei, das "Gesamtkustwerk" (Pressesprecher Ralf Köttker) zu untersuchen, und wird gegebenenfalls dem Kapitän der Nationalmannschaft sagen, dass er künftig nichts mehr sagen soll.
Nichtssagend. So stellen sich nicht nur die Fußballherrschaften, die Klubs und Verbände den modernen Fußballprofi vor. Spielen sollen sie, 65-mal im Jahr höchste Leidenschaft entwickeln und hinterher vielleicht noch darüber reden, wie gut sie an diesem Tag in die Zweikämpfe gekommen sind. Ansonsten sollen sie neben dem Platz Charakter zeigen. Charakter heißt Schweigen.
Der mündige Profi
Philipp Lahm macht da schon länger nicht mehr mit. Als er bei der WM in Südafrika vor dem Halbfinale sagte, er werde die vom verletzten Michael Ballack übernommene Kapitänsbinde freiwillig nicht mehr hergeben, da war das auch deshalb ein Skandal, weil er sich mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Böse, böse schon wieder. Der brave Musterbubi, als der er noch bei der Heim-WM 2006 gefeiert wurde, war er da schon lange nicht mehr. Ein gutes halbes Jahr nachdem er den Bayern Systemlosigkeit vorgeworfen hatte, war das. Die ihm damals zugeschriebene Rolle des mündigen Profis hatte er längst verinnerlicht. Er wollte was sagen. Jetzt sagt er was in seinem Buch, das der Journalist Christian Seiler in seinem Namen geschrieben hat.
Neu kommt einem nicht vor, was da steht: dass Rudi Völler kein guter Trainer war, dass Louis van Gaal ein hoffnungsloser Offensivfanatiker war, das Felix Magaths Begabungen im Führen eines Team beschränkt sind. Aus dem, was Trainer, Spieler und Manager nur angedeutet oder gar nicht gesagt haben, mussten es sich die Sportreporter zusammenreimen. Jetzt kommt endlich ein Fußballer, einer, der es wissen muss, und sagt, dass wirklich stimmt, was immer so gesagt wurde. Das darf getrost als Sensation bezeichnet werden.
Dass die Fußballbranche jetzt so kritisch auf Lahm reagiert und ihn wüst beschimpft, darüber wird sich der Verlag sicher freuen. Ach ja, der Verlag. Lahm hat sich keinen der üblichen Sport- oder Boulevardverlage ausgesucht. Sein "feiner Unterschied" erscheint bei Kunstmann. Dort steht es in der Sachbuchreihe neben Hermann Scheers "Der energetische Imperativ" oder Jan Karskis "Mein Bericht an die Welt".
Auch hier gibt Lahm den anderen Profi. Ein bisschen zumindest. Er weiß, dass er den Massen etwas geben muss und so erschienen Auszüge vorab in der Bild-Zeitung. Es ist ein Spagat, den Lahm da macht: Anspruch und Bild-Zeitung, Kicken und Denken, Schwitzen und Sprechen. Wenn der Spagat gelingt, ist er ein echtes Kunstwerk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken