Vor hundert Jahren (7): Zeit für Bücher
■ Mädchen-Gymnasium weckt Visionen
In feministischen Kreisen geht ein Begriff um namens Rollback. Er hat in etwa die gleiche Wirkung wie die Berufsbezeichnung cleaning woman für Steve Martin im Film „Tote tragen keine Karos“. Aus gesundheitlicher Fürsorgepflicht dreht unsere Mitarbeiterin Anja Robert für einige Minuten das Rad der Geschichte in eine Ära zurück, in der das Wort Rollback noch keine Bedeutung hatte.
Im vorigen Winter hat sich hier in Bremen eine kleine Zahl von Herren und Damen zusammengethan, in der Absicht, die Bildung des weiblichen Geschlechts zu heben. Hier sind die Mädchen auf Schulen angewiesen, die mit dem 16. Jahr abschließen. In neuester Zeit regt sich nun aller Orten die Erkenntniß, daß es dem weiblichen Geschlecht überhaupt nur nutzen kann, wenn der Geist eine tüchtige Schulung erfährt. Nun hat man die Gründung eines Mädchengymnasiums in Aussicht genommen. Zwar sind bis jetzt die Universitäten in Deutschland den Frauen nicht zugänglich, nach den Fortschritten zu urtheilen, die die Sache der Frauen in den letzten Jahren gemacht hat, scheint es aber, daß es nur eine Frage naher Zeit ist, daß ihnen der Besuch der Universitäten gestattet werden wird. Nun hört man aber häufig einwenden: „Das kann man einem jungen Mädchen, besonders in Bremen nicht anthun, wenn es ansieht, wie die Freundinnen ein fröhliches Leben führen und selber muß es Tag für Tag über den Büchern sitzen.“ Vor manchem Auge tauchen gewiß schreckliche Visionen auf von hohläugigen, engbrüstigen, bleichsüchtigen, beklagenswerthen Geschöpfen, die den ganzen Tag an mathematischen Formeln seufzen. So schlimm soll es nicht werden. Ein gesundes Mädchen mit normalem Verstande wird neben den vier täglichen Unterrichtsstunden noch etwa zwei Stunden häuslicher Arbeit zu leisten haben. Da bleibt doch wahrlich noch eine Menge Zeit übrig. Bremer Courier, 24.1.1897
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