■ Vor der endgültigen Dreiteilung Bosnien-Herzegowinas: Wer diese Hölle durchstand ...
„Einen weiteren Winter halten wir nicht mehr durch.“ Das Leben in ständiger Angst hatte selbst die standhaftesten Bürger Sarajevos zermürbt. Schon in diesem Sommer wurde der kommende Winter zum Schreckgespenst. Die Erinnerung an eine Kälte von mehr als minus 20 Grad, die alles Denken beherrscht, die Erinnerung an die Unmöglichkeit, Wärme zu erzeugen, ohne Strom, ohne Gas, ohne Wasser. „So etwas halten wir nicht mehr durch.“
Nicht nur der internationale Druck am Verhandlungstisch hat dafür gesorgt, daß sich Bosnien dem Diktat beugen muß. Noch wichtiger ist die Drohung, daß die Versorgung mit Brenn- und Lebensmitteln nicht mehr gesichert sei. Die Verantwortung für das Leben der 1,8 Millionen Menschen, die in Zentral- und Ostbosnien eingeschlossen sind und am Tropf der internationalen Hilfsorganisationen hängen, gab den Ausschlag auch für den bosnischen Präsidenten Izetbegović, dem Diktat aus Genf zuzustimmen. Erst einmal das Überleben sichern.
Restbosnien wird zu einem eigenständigen Staat, einer Insel im feindlichen Meer, vom guten Willen der Gegner abhängig, ohne Zugang zum Meer, die Straßenverbindungen kontrolliert. Und auch für Sarajevo ist der neue Status nicht gerade verheißungsvoll. Es war zwar die Forderung vieler, die den Krieg in Bosnien-Herzegowina verhindern wollten, ein zeitlich begrenztes UN-Protektorat einzurichten. Doch niemand weiß, was eine UNO-Herrschaft unter diesen neuen Bedingungen bringen wird. Wird die bosnische Armee, werden also die Verteidiger entwaffnet? Was hingegen geschieht mit der serbischen Armee, die von den Bergen herab die Stadt beschießt? Werden die wie jene serbischen Freischärler in der Krajina behandelt, respektvoll nämlich, ohne die Waffen zu verlieren? Ist unter diesen Umständen wirklich das Leben der Bewohner garantiert, gar, wenn sie die Stadt verlassen wollen?
Nur eines ist nach diesem Vertrag sicher: Für jene, die durch die Hölle dieser 16 Monate währenden Belagerung gegangen sind, bleibt die Erinnerung daran für immer tief eingegraben. Wer diese Hölle erlitt und durchstand, wird zeitlebens nicht mehr politisch manipulierbar sein. Aus der Schwäche wird eine Stärke wachsen, eine ungeheure kulturelle und menschliche Produktivität. Noch ist die Stadt nicht gebrochen, im Gegenteil, ihre Identität heute ist stärker als je zuvor. Ihre Bewohner würden sich nur dann den Nationalisten beugen, würde man sie verjagen. Ist dies vielleicht auch schon geplant? Dürfen Regierung und Verwaltung Restbosniens in Sarajevo bleiben?
Noch ist nicht ausgemacht, daß selbst Restbosnien zum islamischen Staate wird, wie dies die Gegner Bosniens und auch viele Leitartikler „hoffen“. Die List der Geschichte ist ja, daß Milošević und Tudjman vorgaben, in Bosnien einen „islamischen Staat“ zu bekämpfen, um ihn durch diese Teilungspläne erst zu schaffen.
Wenn der Krieg sich beruhigt, werden die Gesetze, die durch Waffen geschaffen wurden, wieder außer Kraft gesetzt, hoffen viele bosnische Intellektuelle. Zwar wird es eine überwältigende muslimanische Mehrheit in Restbosnien geben. Und ihr Wille, andere Nationalitäten in diesem Reststaat zu dulden, wird angesichts der aus anderen Teilen Bosnien-Herzegowinas vertriebenen Muslimanen auf eine harte Probe gestellt. Doch in der langen Geschichte Bosniens stand die muslimanische Mehrheit immer für Toleranz und Multikulturalität. Erich Rathfelder
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