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■ Vor dem Länderrat der Bündnisgrünen in MünchenMerkwürdig diffus

Wie schnell doch die politische Stimmungslage kippen kann. Vor den Wahlen in Sachsen und Brandenburg noch hochfliegender grüner Optimismus, jetzt das große Nervenflattern. Droht die Wiederholung des Debakels von 1990?

Damals manövrierten wir uns ins Abseits, weil wir dem epochalen Ereignis auswichen, das die Gemüter der Republik bewegte: „Alle reden über Deutschland, wir reden vom Wetter.“

Heute ist die Lage merkwürdig diffus. Wenn Kohls Siegesgewißheit nicht ganz hohl erscheint, verdankt er es dem Zaudern und Zagen der SPD. Clinton gewann die Wahl mit der Parole „It's time for a change“, die durch Programme und Personen gedeckt war. Davon sind Scharping & Co weit entfernt. Dabei ist der Reformstau aus dem Jahrzehnt Kohl unübersehbar: Ökologische Wende und ökonomische Modernisierung; Neuverteilung und flexible Organisation der Arbeit; eine neue Bildungs- und Hochschulreform; Gestaltung der multikulturellen Gesellschaft; das Neuknüpfen der sozialen Netze angesichts der demographischen Verschiebungen und der wachsenden Armut; der Brückenschlag zwischen West und Ost in der Bundesrepublik und in Europa.

Noch ist der Wechsel möglich. Die Themen für einen offensiven Reformwahlkampf liegen auf der Straße. Erfolg wird haben, wer sie kompetent und engagiert vertritt. Hier ist das politische Vakuum am größten und hier liegt die einzige Chance der Bündnisgrünen.

Es soll bei den Grünen welche geben, die mit dem Finger auf die „Verlierer“ vom Bündnis 90 zeigen und zu bedauern scheinen, im Osten aufs falsche Pferd gesetzt zu haben. Das ist nicht nur menschlich schofel, sondern auch politisch dumm. Ein Flirt mit der PDS bringt uns im Osten nicht weiter und wirft uns im Westen um Jahre zurück. Wer jetzt eine Linksblock-Debatte über Rot-Grün plus PDS vom Zaun bricht, ist mit dem Klammerbeutel gepudert. Die Rechts-Links- Polarisierung nützt nur Kohl und den Anachronisten hinter Gysi.

Jetzt geht es um die Rückkehr der Grünen ins politische Machtzentrum der Republik und um die Beendigung der grauen Jahre politischer Stagnation. In welchen Allianzen das möglich ist, wird sich am Abend des 16. Oktober zeigen. Ralf Fücks

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