■ Von heute an ist die bosnische Hauptstadt wieder vereint: Adieu, Sarajevo!
Sarajevo müsse zwischen Serben, Kroaten und Muslimen aufgeteilt und dann „durch Mauern wie in Berlin“ getrennt werden. Als Radovan Karadžić dies dem US- Botschafter Warren Zimmermann sagte, war die Mauer in der deutschen Hauptstadt bereits gefallen, doch der Krieg in Bosnien-Herzegowina noch nicht ausgebrochen. Die Forderung des bosnischen Serbenführers wurde nicht erfüllt, im Gegenteil: Nach der Übergabe des letzten noch serbisch kontrollierten Stadtteils Grbavica an die bosnische Regierung ist Sarajevo von heute an wieder vereint. Und doch scheinen die Ereignisse dieser Tage Karadžić Recht zu geben. Serben, Kroaten und Muslime, so sein Dogma, könnten nicht zusammenleben. Anstatt das Problem mit Mauern zu lösen, haben nun Zehntausende Serben die Stadt verlassen und so – Selffulfilling prophecy – ihrem Führer bestätigt: Serben, Kroaten und Muslime können nicht zusammenleben.
Vogošća, Ilijaš, Hadžići, Ilidža und nun Grbavica. In den fünf bis vor kurzem noch von den Serben kontrollierten Vororten und Stadtteilen Sarajevos wiederholten sich innerhalb weniger Wochen dieselben Szenen: Kurz bevor die bosnische Regierung die Kontrolle des Terrains übernimmt, packt die serbische Bevölkerung die Koffer, Häuser gehen in Flammen auf, die wenigen Zurückgebliebenen werden dem Terror serbischer Banden ausgesetzt, und wer auch diesem standhält, läuft Gefahr, von muslimischen Banden drangsaliert zu werden.
Natürlich trifft die Hauptschuld Radovan Karadžić, der den Auszug der bosnischen Serben förmlich angeordnet und den Terror billigend in Kauf genommen hat. Aber auch die bosnische Regierung ist nicht frei von Schuld. Zu spät hat sie eine Amnestie für serbische Soldaten erlassen, nur sehr wenig hat sie getan, um die Leute zum Bleiben zu bewegen, und offenbar haben ihre Polizisten mitunter zu Übergriffen auf die zurückgebliebenen Serben geradezu ermuntert. Und die Ifor, die internationale Truppe, die den Frieden implementieren soll? Sie schaut zu, wenn die bosnische Feuerwehr, von serbischen Granaten beschossen, sich weigert, brennende Häuser zu löschen.
Vieles spricht also dafür, daß nicht nur Karadžić' Mannen nach ethnischer Sauberkeit trachten, sondern daß auch der bosnischen (muslimischen) Regierungspartei SDA, die inzwischen die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten weithin kontrolliert, der Auszug der Serben durchaus zupaß kommt. Und auch die internationale Gemeinschaft sieht offenbar in der ethnischen Homogenisierung eine Problemlösung.
Sarajevo, das fast vier Jahre lang belagert war, ist nun wieder vereint. Doch es ist nicht mehr dasselbe Sarajevo. Die bosnische Hauptstadt war das Symbol des multikulturellen und multireligiösen Zusammenlebens schlechthin. Während in den serbisch kontrollierten Gebieten Bosniens über 900 Moscheen geschleift wurden, blieben in Sarajevo die Gotteshäuser aller Religionen intakt, soweit sie nicht von serbischen Granaten getroffen wurden.
28 Prozent der Bevölkerung Sarajevos waren vor dem Krieg Serben. Nach fast vier Jahren Krieg, nach dem Zustrom von weit über 100.000 von Serben vertriebener Muslime und nach der Massenflucht der Serben aus den einst ethnisch gesäuberten Vororten und Stadtteilen werden es höchstens noch zehn Prozent sein. Und wie wichtig ihr dieses Zehntel ist, hat die bosnische Regierung gerade gezeigt: Sie hat Sarajevo, was in der neuen Verfassung gar nicht vorgesehen ist, einfach zur Hauptstadt eines muslimischen Kantons gemacht. Der Bürgermeister der Stadt, ein Muslim, ist daraufhin aus Protest zurückgetreten. Aus Protest gegen die nationalistischen Tendenzen der Regierung hat vor wenigen Wochen auch der ebenfalls muslimische Premierminister Silajdžić sein Amt niedergelegt.
Was sich in Sarajevo in den letzten Wochen abspielte, hat Bedeutung weit über die Hauptstadt hinaus. In Sarajevo waren die Bedingungen für ein multiethnisches Zusammenleben weit günstiger als im Rest der Republik. Wie sollte im serbisch kontrollierten Banja Luka, im kroatisch kontrollierten Jaice, im muslimisch kontrollierten Bugojno gelingen, was in der Hauptadt zu mißlingen droht und was in Mostar kaum mehr möglich scheint: ein ziviles Zusammenleben verschiedener Völker? Genau dies aber ist ein Hauptanliegen des Friedensabkommens von Dayton. Es sieht die Bewegungsfreiheit aller Menschen im Land sowie die Rückkehr von über drei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen an ihre Heimatorte vor.
Es hätte Möglichkeiten gegeben, das Desaster von Sarajevo zu verhindern. Man hätte Karadžić, der als Kriegsverbrecher mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, festnehmen können. Man hätte seine Fernseh- und Rundfunkstationen, über die den Serben die Massenflucht befohlen wurde, elektronisch stören können. Man hätte die marodierenden Banden militärisch bekämpfen können. Man hätte, aber man wollte nicht.
So kam es dann, daß am Sonntag in Grbavica, dem letzten noch serbisch kontrollierten Stadtteil Sarajevos, der heute unter bosnische Kontrolle gestellt wird, Flammen ungehindert einen Supermarkt zerstörten, während im 500 Meter entfernten Hotel Holiday Inn Vertreter der internationalen Gemeinschaft über den Wiederaufbau des Landes parlierten. Und so kam es, daß am vergangenen Donnerstag das Embargo für leichte Waffen für alle Kriegsparteien aufgehoben wurde, während in Ilidža mit leichten Waffen die Bevölkerung terrorisiert wurde.
Das Abkommen von Dayton droht in seinen zentralen zivilen Aspekten zu scheitern. Wenn es nicht gelingt, die völkische Dynamik zu stoppen, wird die Rückführung der Flüchtlinge enorm erschwert, wird die für Juni vorgesehene Durchführung demokratischer Wahlen praktisch unmöglich, wird sich in neuen Flüchtlingslagern aus Haß und Frustration neuer Zündstoff entwickeln.
Noch kann die Wiederaufbauhilfe an klare politische Bedingungen geknüpft werden. Noch kann die Errichtung von Moscheen im serbisch kontrollierten Banja Luka, die Wiederansiedlung von Muslimen im kroatisch kontrollierten Jaice, die gezielte Förderung der Rücksiedlung der Serben ins muslimisch kontrollierte Sarajevo zur Voraussetzung von Finanz- und technischer Hilfe gemacht werden. Mißlingt die Durchsetzung der zivilen Ziele des Abkommens von Dayton, wird auch, was militärisch erreicht wurde, nicht von Dauer sein: der Waffenstillstand. Dann droht nach Abzug der internationalen Truppen ein neuer Krieg. Sarajevo wäre dann – im Rückblick gesehen – wenigstens ein Kriegswinter erspart geblieben, und es hätte eine Atempause gehabt. Thomas Schmid
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