: Von den Grenzen des öffentlichen Vortrags
■ Literaturhaus: Zygmunt Baumann stellte sein neues Buch „Postmoderne Ethik“ vor
Es bleibt noch viel zu tun, packen wir es endlich an: Postmoderne Ethik, so der Titel des neuesten Buchs von Zygmunt Baumann, was soll das sein? Der Soziologe war zu Besuch im Literaturhaus Hamburg, um dies Werk vorzustellen und damit vielleicht eine Antwort auf diese Frage zu geben. Sein Vortrag variierte zuerst noch einmal das zentrale Thema seiner letzten Bücher (Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust; Moderne und Ambivalenz; Sterblichkeit und Unsterblichkeit), daß sich nämlich die modernen Gesellschaften in ihrem paranoiden, fortschrittsversessenen Zwang, Ordnung zu schaffen, immerzu in neue Unordnungen verstricken.
Unverkennbar klingt hier ein Motiv der älteren Kritischen Theorie an, Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung. Im weiteren orchestrieren Baumanns Gegenwartsdiagnose die mittlerweile aus jedem besseren Feuilleton bekannten Thesen Daniel Bells (die Religion kompensiert im postindustriellen Zeitalter den ansonsten tödlichen Modernisierungsstreß), Richard Sennets (der Verfall des öffentlichen Lebens durch die Dominanz des zweckrationalen Kalküls) und nicht zuletzt Ulrich Becks (das ganz normale Chaos der Liebe und anderer traditionaler Einrichtungen in einer aus den Fugen geratenen Risikogesellschaft).
So weit, so gut, wäre all dies kaum der Rede wert, obwohl es den größten Raum im Vortrag einnahm, wenn sich Baumann nicht in einer überraschenden Wendung auf Emmanuel Lévinas beziehen würde. Ohne diesen Bezug nämlich würde sein Ansatz notwendig in das nur allzu vertraute Lamento: nichts geht mehr, alles ist sowieso egal etc., verfallen. Baumann sieht in der Auflösung der großen Ordnungen die Chance einer konzeptuellen Neuorientierung, einer Neueröffnung der Ethik.
Die Sozialphilosophie von Lévinas wird in dieser Perspektive zum „normativen“ Dreh- und Angelpunkt. Mit ihr versucht Baumann den Bogen zu schlagen von seiner eher großraumkategorialen Diagnostik zur detailorientierten Phänomenologie interpersonaler Beziehungen. Auch wenn ihm dies vorerst nur der Absicht nach gelingt, was keineswegs gegen sein Vorhaben sprechen muß, kann es dennoch zum Aussichtsreichsten der letzten Zeit gerechnet werden.
Doch stößt hier auch die Form des öffentlichen Vortrags (und wohl auch des Artikels einer Tageszeitung) an seine Grenzen, was nicht zuletzt auch daran liegt, daß die Philosophie Emmanuel Lévinas' erst noch zu entdecken ist. Das wurde im übrigen besonders deutlich an den recht hilflosen Fragen in dem anschließenden Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma.
Christian Schlüter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen