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Archiv-Artikel

Von Ghetto-Kids und Schwuchteldeutschen

„Die Polizei kommt doch mit allem durch“, sagt der Junge, „für die sind wir eben Ghetto“Es ärgert Rochow, dass um „ein paar Türkenblagen“ so ein Aufriss gemacht wird

AUS BERLIN-KREUZBERGNINA APIN (TEXT) UNDBERND HARTUNG (FOTOS)

Später Nachmittag in der Wrangelstraße. An der Ecke Oppelner Straße hängen Jugendliche vor dem Internetladen herum, Testosteron liegt in der Luft. Murat Yüksel schaut zu ihnen hinüber, von seinem Lottoladen in der Wrangel 82 hat er eine gute Sicht. Viele von den Jungs kennt der 26-Jährige, er ist hier aufgewachsen. „Das Zusammenleben klappt super“, sagt Yüksel. „Meistens jedenfalls.“

Jetzt fliegen drüben markige Sprüche über die Kreuzung, auf Deutsch, auf Türkisch. Dann knallt es. Murat Yüksels Kopf schnellt herum, die Inhaberin von „Papier und Spiele“ eilt zur Tür, der Gemüsehändler, der gerade Orangenkisten auspackt, verharrt …

Nur eine aufgeblasene Plastiktüte. Drei kleine Jungs rennen kichernd über die Straße, die Passanten gehen weiter.

Die Idylle im Kreuzberger Wrangelkiez ist fragil dieser Tage. Zu präsent ist allen noch, was sich letzte Woche hier abgespielt hat. Zwischen achtzig und hundert wütende Anwohner – die Zahlen schwanken – bedrängten und beschimpften Polizisten, die zwei Zwölfjährige festgenommen hatten. Die Beamten, die den mutmaßlichen MP3-Player-Räubern Handschellen angelegt hatte, sahen sich dem Zorn türkischer Jugendlicher, ihrer Eltern und Nachbarn ausgesetzt und forderten Verstärkung an. Tränengas wurde eingesetzt, ein 23 Jahre alter Angreifer wurde festgenommen, zwei Polizisten wurden verletzt. Zwei Tage später stürmten Jugendliche in der benachbarten Eberhard-Klein-Schule den Physikunterricht. Die Maskierten drängten Lehrer und Schüler beiseite und bedrohten sie mit Besenstielen, bis sie ihr Opfer gestellt und mit mehreren Stichen ins Gesäß schlimm verletzt hatten.

Die Gewaltausbrüche im Wrangelkiez, wo vierzig Prozent der Bewohner Migranten sind, erregen die Gemüter. Ist der Stadtteil am Kippen, wird gefragt, wird er zum rechtsfreien Raum? Schnell ist der Vergleich zu den französischen Banlieues gezogen, wo vor einem Jahr gewalttätige Jugendliche randaliert, Polizisten verprügelt und Autos angezündet haben. Dort war der rassistische Umgang der Polizei mit jugendlichen Verdächtigen der Auslöser.

„Ghetto!“, der türkische Inhaber des Internetcafés, schnaubt genervt, „hier ist doch alles ruhig.“ Er zeigt zu den Computern hinüber, wo ein paar Jungs beim Spielen herumalbern und Cola trinken. Am Tresen gibt es Telefonkarten, Snacks und Islamheftchen in deutscher Sprache zu kaufen. „Obwohl“, überlegt er, „es ist eher ein Wunder, dass es nicht öfter kracht.“ Er beginnt aufzuzählen, wen er alles so kennt in der Gegend. Den Jungen, der in seiner Schule verletzt wurde, „da am Hintern“. Den Furcht einflößend muskulösen schwarzen Rapper Desodogg mit den tätowierten Knasttränen, der gerade zur Tür hereinkommt, um Flyer für sein neues Album dazulassen. Und den 23-Jährigen, der sich letzte Woche mit der Polizei angelegt hat.

Mehmet heißt der. Er trägt eine Halskrause und ein blutunterlaufenes Auge und wird gerade draußen auf der Straße von einem Fernsehteam interviewt. Mehmet ist jetzt ein Kiezstar. Ihn sollen die Polizisten angeherrscht haben: „Geh doch zurück in dein Land!“ Und ihn sollen die Beamten auch verprügelt haben. Die internen Ermittlungen der Polizei laufen noch, doch für die Jungs draußen vor dem Internetcafé sind die Ereignisse des 14. November verbürgt: „Erst haben sie bei Lidl angehalten, um ihm auf die Fresse zu geben“, erzählt ein bulliger Typ in Bomberjacke und in die Socken gestopften Jeans. „Und auf der Wache in Friedrichshain haben sie ihn noch mal geschlagen“, sagt sein Freund.

Dass es genauso gewesen sein muss, davon zeugten doch Mehmets Verletzungen und seine Schilderungen, die hier mehr zählen als jeder Zeitungsbericht. „In dieser Gegend kommt die Polizei doch mit allem durch“, sagt ein Durchtrainierter, er tänzelt beim Sprechen und zeigt Oberarmmuskeln. „Weil wir hier mitten in New York sind, Alter. Für die sind wir eben Ghetto. Zum Festnehmen sind sie schnell da, aber wenn’s drauf ankommt …“ Es bleibt bei der Andeutung – jeder hier weiß, was er meint.

Um zu verstehen, was er meint, sollte man Murat Yüksel in seinem Lottoladen besuchen und hören, was geschehen ist. Im Mai letzten Jahres starb sein Vater Bilal Yüksel hier an einer Rauchvergiftung. Er verbrannte vor den Augen der Nachbarn, die vergebens zu helfen versuchten. Die Hintertür des Ladens war mit einem Riegel verschlossen, die Fenster vergittert, der Sechzigjährige war hilflos gefangen.

„Man sagt, in einem anderen Viertel wäre die Feuerwehr schneller zu Hilfe gekommen“, formuliert Yüksel vorsichtig. „Aber solange ich nichts beweisen kann, mache ich niemandem einen Vorwurf.“ Die internen Untersuchungen bei der Feuerwehr sind eingestellt, von dort heißt es, man sei nur fünf Minuten nach dem Notruf zur Stelle gewesen. Warum die Rettungskräfte nicht gleich über den Hintereingang zugegriffen, sondern umständlich und zeitraubend von der Straße aus gelöscht haben – über solche Fragen denken die Yüksels lieber nicht mehr nach. „Der Schmerz ist schlimm genug“.

Trotzdem, es bleibt das diffuse Gefühl, stiefmütterlich behandelt worden zu sein. „Wir Ausländer fühlen uns nicht richtig willkommen“, formuliert Yüksel. Das Auftreten der Polizei letzte Woche nennt er pubertär. „Es war pure Provokation, die Kinder eine Viertelstunde in Handschellen an der Wand stehen zu lassen.“ Er holt seinen Laptop raus und zeigt Fotos. Sein Bruder hat sie gemacht, „Kiezkloppe“ heißt die Datei.

Zwei erschrockene Jungs in Handschellen sind darauf zu sehen, zwei Polizisten und nur wenige Umstehende. „Die wissen genau, wo man hier empfindlich ist“, sagt Yüksel. Die Medienberichte von gewaltbereiten Migrantenhorden kämen doch gerade recht zur aktuellen Debatte um das Bleiberecht. Eine deutsche Kundin pflichtet ihm bei: „Die Aufregung um Ausländergewalt ist unfair“, sagt sie, „wir haben hier vor allem soziale Probleme.“

Um die zu sehen, muss man im Wrangelkiez nicht lange suchen: Die vielen Bedürftigen vor der Suppenküche der Liebfrauenkirche, die Trinker in den düsteren Eckkneipen sind nicht zu übersehen, auch die türkischen Männer mittleren Alters, die sich in grell beleuchteten Cafés, Callcentern und Internetshops herumdrücken. „Der Wrangelkiez ist ein soziales Ghetto“, sagt Marcus Staiger, er ist Inhaber des Hiphop-Labels Royal Bunker in der Falckensteinstraße. Bildungsferne Familien, schlechte Schulen, fehlende Perspektiven, zählt Staiger die Probleme im Kiez auf. Die Nachfahren der Fabrikarbeiter und Händler hätten das Gefühl, aus der Erwerbs- und Konsumgesellschaft ausgeschlossen zu sein.

Dafür ist der Zusammenhalt untereinander umso stärker, eine gewisse Opferhaltung gehört einfach zum Lebensgefühl. Sozialarbeiter, Quartiersmanager und andere Wohlmeinende sind für Staigers Freunde aus der Rapperszene „Schwuchteldeutsche“. Man will alleine klarkommen, wenn nötig mit Dealen und „Abziehen“ von Wertsachen. „Dem Staat traut man nicht“, sagt der Hiphop-Produzent. „Konflikte werden innerhalb der Familie und der Clique gelöst, das funktioniert erstaunlich gut.“

Als einer von Staigers Kollegen auf der Straße angegriffen wurde, sprach er zusammen mit einer angesehenen Familie beim Cousin der Angreifer vor. „Am nächsten Tag kamen alle und haben sich entschuldigt.“ Für gefährlich hält Staiger diese Clanstrukturen nicht. Die grundsätzliche Einsicht in die Notwendigkeit des Rechtstaats sei eigentlich da, meint er, aber die Exekutive hätte einfach ein Glaubwürdigkeitsproblem. Staiger kann die Einschätzung seiner türkischen und arabischen Kiezfreunde nachvollziehen: „Die verachten die Polizei dafür, dass sie zu soft ist, gleichzeitig fühlen sie sich von der Ausländerfeindlichkeit vieler Beamter beleidigt. So entsteht Misstrauen.“

Nachts wird es ruhiger in der Wrangelstraße, nur das Sofia, die Bull Bar und das Wrangeleck bilden den Soundteppich einer Ausgehmeile. Peter Rochow, Möbeldesigner, Mitbegründer des Sofia und Wirt der Shishabar „Boudoir 1001“, kann mit der Kiezromantik und der Opferhaltung vieler Migranten nichts anfangen. Und das, obwohl das Boudoir einen orientalischen Touch hat und Rochow zwei türkische Mitbetreiber. Dass nun um „ein paar Türkenblagen“, wie er sagt, so ein Brimborium gemacht wird, ärgert ihn. „Das hilft nur der Gang-Folklore.“ Widerstrebend erzählt Rochow, dass auch er mit seinem Laden auf die „Hilfe von den richtigen Leuten“ angewiesen sei. Gangs gebe es zwar nicht mehr, aber Strukturen, die so ähnlich funktionieren.

Erdal, den man im Viertel nur bei seinem Vornamen nennt, ist offizieller Betreiber des Boudoir, sein Name ist der Garant dafür, dass es keinen Ärger gibt und bestimmte Jungs draußen bleiben. „Manche rauben sogar die Läden ihrer eigenen Eltern aus“, raunt Mustafa, der für die Wasserpfeifenzeremonie zuständig ist. Mehr will er nicht sagen, nur so viel: „Ich habe schon in vielen Ecken in Berlin gewohnt, aber das hier ist keine normale Gegend.“

Spät nachts schwirren zwischen den Bars und Clubs französische, englische und spanische Wortfetzen durch die Nacht – Berlin-Touristen auf Kreuzberg-Trip. Türkisch bleibt den Dönerverkäufern vorbehalten, die das hungrige Ausgehvolk füttern. Und den kleinen Grüppchen junger Männer, die zwischen all den aufgebrezelten Clubgängern kaum auffallen. Bei Nacht scheinen die Posen der Jungs vom Internetcafé an Wirkung zu verlieren: Ihnen fehlt das Publikum.

Auch Murat Yüksel hat den Lottoladen seines Vaters längst abgeschlossen und ist nach Hause zu Frau und Kind gefahren. Seit drei Jahren wohnt er in Neukölln. Um endlich rauszukommen aus dem Wrangelkiez, weg von den ganzen Mythen, Legenden und Geschichten. Er hat genug davon.