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Archiv-Artikel

Vom pittoresken Verfall

Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911) ist die literarische Vorlage für Benjamin Brittens letzte Oper. „Death in Venice“ wird in Mönchengladbach großartig in Szene gesetzt

VON REGINE MÜLLER

Die Bühne erinnert an ein abgewetztes Plüschkino aus der Zeit, als Kinosäle noch ausschauten wie Opernhäuser. Das macht Sinn, denn „Tod in Venedig“ ist jenseits der literarisch sozialisierten Nische im kollektiven Bewusstsein vor allem als schwerblütiger Kult-Film abgespeichert.

Luchino Viscontis Adaption von Thomas Manns Schlüsseltext aus dem Jahr 1911 badet in üppiger Morbidezza und verdankt ihren Welterfolg auch der Honigsüße des unterlegten “Adagietto“-Satz aus Gustav Mahlers fünfter Symphonie. Visconti tat mit diesem Kunstgriff weder Mahler noch Mann einen Gefallen, die unfreiwillige Paarung wurde jedoch zum Markenzeichen einer weich gezeichneten Ästhetik pittoresken Verfalls.

Dass sich im selben Jahr wie Visconti auch der sterbenskranke Benjamin Britten für den Stoff interessierte, kann nicht genug verwundern. Mit seiner letzten Oper „Death in Venice“ hinterließ er in 17 Bildern einen Gegenentwurf zu Viscontis schwüler Opulenz. Es mag an der sparsamen, konzentrierten Tonsprache oder an den Ansprüchen an die alles beherrschende Tenorpartie des Aschenbach liegen: Brittens Schwanengesang, noch unverhohlener als Thomas Manns Textvorlage auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Minoritätsschicksal als homoerotischer Künstler, wird selten aufgeführt. Es ist eigentlich eine Einmann-Oper, die Britten seinem Lebensgefährten, dem außergewöhnlichen Tenor Peter Pears in die höhensichere Kehle schrieb.

Nun hat sich ausgerechnet das Krefeld-Mönchengladbacher Theater, das mit starken Sängern den Ensemblegedanken lebt und keine Stars züchtet, dieses Werk auf den Spielplan gesetzt. Lobenswerterweise, muss man sagen. Denn bereits nach wenigen Minuten hat sich Ensemble-Mitglied Hans-Jürgen Schöpflin in der Titelrolle als Traumbesetzung ausgewiesen. Die diffizile Partie, die dem Sänger über weite Passagen während zweieinhalbstündiger Dauerpräsenz deklamatorische Freiheiten lässt, fordert auch dem Darsteller alles ab. Die heikle Geschichte des alternden Schriftstellers auf Venedig-Reise, der aus Schwärmerei für einen polnischen Jüngling in haltlose Leidenschaft abrutscht, seine Würde und schließlich sein Leben verliert, driftet leicht in den Kitsch ab. Hans-Jürgen Schöpflin hütet sich jedoch vor jedem Zuviel und adelt seine Figur mit Noblesse und Ernst.

Regisseur Andreas Baesler und sein Ausstattungsteam können der Visconti-Versuchung nicht gänzlich widerstehen und zeigen wallende Kostüme, edles Weiß und viel bröckelnde Patina. Doch wird nichts überzuckert oder zur Postkarte stilisiert, Baesler sorgt für Witz und Bewegung auf der Bühne, choreografiert souverän den Chor und findet originelle Lösungen für die Ortswechsel im stimmungsvollen Einheitsbühnenbild (Harald B. Thor). Auf der Leinwand flimmern Himmelsausschnitte und Videosequenzen, die den umschwärmten Jüngling umkreisen. Stilsicher ausbalanciert fügen sich auch die getanzten Szenen ins Geschehen, denn sowohl Tadzio (ausdrucksvoll: Christian Speidel) als auch sein Gefolge bleiben bei Britten stumm und verharren so in unwirklicher Ferne.

Graham Jackson im Graben ist ein großartiger Sachwalter von Brittens präziser, eindringlicher, bisweilen an Janacek gemahnenden Tonsprache und hält das Geschehen in pulsierendem Fluss. Großartig auch der Chor und die kleineren Partien, ausdrückliches Lob an Christoph Erpenbeck, der vom Geck bis zum Coiffeur sieben Partien mit chamäleonhafter Eleganz bewältigte.

Heute 19:30 UhrKarten: 02166-6151100