Vom Nachttisch geräumt: Erinnerungen
■ Digne Meller Marcovicz: "...die Lebeendigen und die Toten..."
Die Aufnahmen von Digne Meller Marcovicz sind eher Schnappschüsse als Meisterwerke. Keine aufwendigen Studioinszenierungen, keine gesuchten Perspektiven, kein ausgeklügeltes Licht- und Schattenspiel. Und doch habe ich mehr als zwei Stunden mit dem Buch verbracht: lachend und weinend.
Als ich die Fotos der 25jährigen bildhübschen Gisela Elsner sah und mich daran erinnerte, wie sie vor ein paar Jahren todkrank aufgedunsen durch die taz geisterte, auch am dritten Tage den Weg von ihrem Arbeitszimmer zum Konferenzraum noch nicht fand, da wurde mein Hals ganz eng: all die Riesenzwerge, denen es von Jahr zu Jahr besser geht, und der Schreck, daß ich sicher mehr zu denen als zu den Elsners gehöre.
Für jeden, der in den siebziger Jahren in der Frankfurter Linken lebte, ist der Band eine Fundgrube von Erinnerungen: die Römerberggespräche mit Jean Améry und Erich Fried, Adorno und seine schöne Gretel. Einem China-Jubelfoto folgt eines des Dalai Lama. Oder Hans Magnus Enzensberger als Agitator mit aufgerissenem Mund und darunter Walter Boehlich, der den Finger vor den Mund hält, um jemandem zu sagen: Schweig! Die fünf Seiten, auf denen immerzu jemand sich mit der Hand im Gesicht herumfuhrwerkt– Hildesheimer und Höllerer mit Brille, Hanna Schygulla mit Zigarette –, sind Illustrationen zu einer Enzyklopädie der Gestik. Sehr schön auch die raumgreifende Imponierlust des Zeit-Kolumnisten Wolfgang Ebert und die kleinteilige Introvertiertheit des Land- Art-Papstes Walter de Maria. Ich kenne nur wenig Fotobände, die auch nur annähernd so intelligent, so unterhaltend zusammengestellt wurden wie dieser. Jacob Taubes lachend in seinem berühmten Dracula-Outfit, das er als Krebskranker trug; Verleger Giangiacomo Feltrinelli kniend vor seinem Autor Günter Grass und ein (noch) schlanker, herrlich verschmitzter Hellmuth Karasek von 1967 oder die gestenreiche Konversation zwischen Jorge Luis Borges und dem Redakteur der Frankfurter Rundschau Wolfram Schütte. War jemals eine deutsche Schauspielerin schöner als Alexandra Kluge auf dem Foto von Marcovicz?
Dennoch: Meine Lieblingsaufnahme ist die vom CSU-Parteitag 1973. Alles konzentriert auf F.J. Strauß, der Ludwig Erhard gratuliert. Drumrum Goppel, Barzel, Carstens. Weitab sitzt einer, von dem keiner Notiz nimmt: Helmut Kohl. Als einziger in einem hellen Anzug. Aber er blickt so in die Menge, als dächte er, es drehe sich alles um ihn. Wer sagt da noch, die Zeiten seien vorbei, da das Wünschen geholfen habe?
taz-Lesern bietet der Band ein besonderes Vergnügen: Redakteur Christian Semler zusammen mit seiner Mutter Ursula Herking. Genossinnen und Genossen a.D., gehet und kaufet, blättert und leset!
Digne Meller Marcovicz: „... die Lebendigen und die Toten...“. Ritter Verlag, 398 Seiten, Schwarzweißfotos, 88DM
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