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■ Vom Nachttisch geräumtSchocker

Ito Hiromi wurde 1955 in Tokio geboren. Heute ist sie eine der wichtigsten Autorinnen Japans. Ihre rücksichtslose Offenheit schockiert immer wieder. Die Berliner Japanologin Irmela Hijiaya- Kirschnereit hat in einem schmalen Band einige der skandalösesten Texte der Autorin übersetzt und herausgegeben. Gedichte und Prosa. Die Beschreibung einer Krebstoten gehört zu den eindrücklichsten Passagen. Sätze von obszöner Detailversessenheit. Der uns an Japan immer wieder faszinierende Sinn für Grausamkeit, für die gezielte Attacke auf unser Verehrungsbedürfnis, erreicht in diesen kurzen Stücken raffinierte Höhepunkte. Ein Gedicht, in dem es um Abtreibung geht, endet mit der Aufforderung:

„Setzen wir sie alle aus

Die Töchter und

Die Söhne

Die die Zähne wetzen, um uns die Brustwarzen abzubeißen“

Es gibt keinen deutschen Text, der die zerstörerischen Wünsche einer Schwangeren, das Auf und Ab, die Wellen ihrer Aggressionen und Autoaggressionen auch nur mit einem Hunderstel der von Ito Hiromi erreichten Schärfe beschreibt. Das Gedicht trägt den Titel „Kanoko töten“. Die Übersetzerin und Herausgeberin sorgt in ihrem Nachwort für den alles übertreffenden Schock: Kanoko ist der Name der 1984 geborenen Tochter von Ito Hiromi. So etwas gibt es bei uns nicht nur nicht, das ist nicht einmal denkbar. Hierzulande entdecken Autorinnen, kaum haben sie sich entschlossen, ihr Kind auszutragen, die Wonnen der Mutterschaft und wissen nichts Eiligeres zu tun, als uns sie mitzuteilen. Die wilden Jahre sind vorüber, das Böse hat sein Recht verloren. Mutti ist lieb. Ito Hiromi zeigt, wie wenig die Schwangerschaft den Charakter verändert. Sie verschweigt nicht, daß es immer wieder Momente gibt, in denen sie ihre geliebte, in ihr heranwachsende Tochter verflucht. Nein, ganz falsch: „verschweigt nicht“ ist Unsinn. Ito Hiromi schwelgt in der Aggression. Zerstören ist eine Lust. Wer sich darüber hinweglügt, wird weder die Welt noch sich selbst verstehen. Das ist die nüchtern blutige Botschaft der japanischen Dichterin.

Ito Hiromi: „Mutter töten“. Aus dem Japanischen übersetzt und herausgegeben von Irmela Hijiya- Kirschnereit, Residenz-Verlag, 32 Seiten, gebunden, 18 DM.

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