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■ Vom Nachttisch geräumtPalimpseste

Gérard Genette ist Professor. Man merkt das schon beim ersten Satz: „Gegenstand dieses Buches ist das, was ich an anderer Stelle, ,mangels eines treffenderen Ausdrucks‘, als ,Paratextualität‘ bezeichnet habe. Inzwischen ist mir jedoch etwas Besseres – oder Schlechteres: die Entscheidung liegt bei Ihnen – eingefallen. Ich ziehe ,Paratextualität‘ somit zurück und verwende nun diesen Begriff für etwas ganz anderes. Jenes vorschnell formulierte Programm muß also zur Gänze umgearbeitet werden.“ Man ist dankbar für den leichten, ironischen Ton dieser Selbstkritik, aber wenn der Autor dann auf 535 Seiten immer wieder sich in Begriffsklärungen, in der Herstellung chemisch reiner Bezeichnungen versucht, dann wird der sensible Leser unwirsch und möchte sich die vielen erhellenden Passagen über den Parodisten Proust, über die Travestien des 17. Jahrhunderts oder die Späße der amerikanischen Postmoderne nicht von öden Tabellen, umstandskrämerischen Begriffspurgatorien verderben lassen. Aber es ist der unsensible Leser, der unwirsch wird. Der sensible hat doppelten Spaß. Er hat gemerkt: Genettes Standardwerk zum Thema Parodie ist selbst eine. Die Akribie, mit der jede Art, in der ein Text sich auf einen anderen beziehen kann, einen eigenen Namen erhält, ist die eines Virtuosen, dem es Vergnügen bereitet, die Schulmeister vergangener Zeiten und die Kollegen vom Fach vorzuführen. Genette schlägt die philologischen Beckmesser mit ihren eigenen Mitteln. Keine Sekunde ist er langweilig. Er stellt die ödesten Tabellen mit dem gespreizten Pathos einer Philologie vor, deren Triumphe zweihundert Jahre zurückliegen. Beim zweiten oder dritten Beispiel nehmen wir den graziösen Charme wahr, mit dem er den Gestus einer Epoche imitiert, die noch schwere, staubbeladene Folianten bewegte statt dünner, glänzender CDs.

Eine Lust, ihm auf dem Weg durch die Genreinterpretationen zu folgen. Wie ein Besessener scheint er den Ordnungsfanatismus der Perückenwelt liebevoll zu parodieren. Wie ein großer Clown macht er durch Übertreibung das Dilemma deutlich: Je eindeutiger jeder einzelne Begriff ist, desto mehr muß es geben. Je klarer also alles zu werden vorgibt, desto unübersichtlicher wird es. Nach dreißig Seiten helfen unsere Unterstreichungen nicht mehr, die Randbemerkungen, die sorgfältigen Numerierungen – wir sind ertrunken im plötzlichen Begriffsreichtum dieses kunstvollsten aller lebenden Parodisten. Mitten im Wirbel halten wir inne und kapieren: Er hat uns gefoppt. Wir sind auf ihn reingefallen, haben die Schemata ernstgenommen, haben sie nicht als dünne oberste Schicht eines Palimpsestes durchschaut, unter der der Schalk nicht nur eines Rabelais lächelt.

Gérard Genette: „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“. Edition Suhrkamp, übersetzt von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, 535 Seiten, Broschur, 32,80 DM.

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