■ Vom Nachttisch geräumt: Erbfeindschaft
Eine der wichtigsten Editionen dieser Jahre: Hitlers Reden, Schriften, Anordnungen. Aufregend auch da, wo der nicht vorbereitete Leser es am wenigsten erwartet. Eine genaue Lektüre zum Beispiel der Hitlerschen Äußerungen über Parteien und das, was die NSDAP von den anderen unterscheidet, ist von rechts überhaupt nicht zu leisten. Nur wer das entsprechende Kapitel in Lukaćs' „Geschichte und Klassenbewußtsein“ gelesen hat, wird begreifen, worum es Hitler ging. Man erinnert sich der gemeinsamen Quelle Sorel. Je mehr man aber die Reden liest, desto stärker spürt man auch die gemeinsame Realität, den gewaltigen Umsturz, den die Jahre 1914 bis 1919 bedeuteten. Zunächst strich ich mir die Stelle „aus der zerrissenen Masse eine gemeinsame Herde formen“ an, weil sie so schön verräterisch ist. Dann merkte ich, daß der Führer kein Problem damit hatte, daß ihm eine Herde folgte. Hundert Seiten weiter dämmerte mir, daß 1928 viele Menschen nichts dagegen hatten, eine Herde genannt zu werden. Sie lebten jeden Tag in der Gewißheit, daß es für sie als einzelne keine Rettung aus der Misere gab. Sie unterwarfen sich: dem Führer, der Partei. Keinem „höheren Wesen“. So spinnert mystizistisch einige Strömungen in der NSDAP waren, so abgründig verrückt der Glaube Adolf Hitlers gewesen sein mag, das Sacrificium intellectus wurde keinem Gott gebracht, sondern einem Herrn, der in jenen Jahren begann, die Lederjacke durch den Smoking zu ersetzen. Die Individuen verzichteten darauf, welche zu sein, als wollten sie ihre Kräfte sammeln, um sie einem von ihnen zu übertragen. Wir kennen diesen Mechanismus. Von klein auf. Jeder Schulhof hatte seinen heimlichen Chef. Es war nie der Stärkste, nie der Klügste, nie der Schönste. Es war einer wie die anderen. Immer war es ein Junge.
Während der Lektüre verändert sich der Blick auf den Text. Zunächst absorbiert die Mischung von Oberlehrer und Bierzelt die Aufmerksamkeit; Hitlers wichtigtuerisches, umständliches Dozieren erschwert das Lesen. Aber immer besser durchschaut man es und gewinnt Einblick in die Gemütsverfassung des Redners und seiner Hörer.
Man beginnt, auf die kleinen Klammern zu achten, in denen steht: „Lebhafte Zustimmung“, „Beifall“, „lang anhaltender, stürmischer Beifall“. Und plötzlich, mitten in diesen Reden, die ja Hinweise sind auf die schrecklichen Taten, die ihnen folgten, fällt auf, daß der Redner sein Publikum immer dann mitreißt, es antreibt und aufputscht, wenn von Frankreich die Rede ist. Wann immer Hitler spürt, daß er beginnt, sein Publikum zu langweilen mit seinen Ausführungen über die Großartigkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung oder über das Verhältnis von Bewegung und Partei, kommt er auf Frankreich zu sprechen und dessen Willen, Deutschland zu unterjochen, und die Zuhörer hängen an seinen Lippen.
Das ist vorbei, sagt der heutige Leser sich. Es gibt keine noch so verbiesterte deutsche Rechte, die diese Erbfeindschaft wiederbeleben möchte. Damit ist Schluß. Könnte dem Wahn aus Haß und Rachegelüsten doch ein Ende gemacht werden, oder lauert er immer irgendwo, wartend auf die rechte Gelegenheit und den geeigneten Anlaß?
„Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Band III: Zwischen den Reichstagswahlen Juli 1928–September 1930. Teil 1: Juli 1928–Februar 1929“. Hrsg. und kommentiert von Bärbel Dusik und Klaus A. Lankheit, unter Mitwirkung von Christian Hartmann. K.G. Saur, 464 Seiten., geb., 128 DM
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