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■ Vom Nachttisch geräumtIntimität

Zweihundertdreißig Seiten mit Fotos der Konzentrationslager von Dachau bis Bergen Belsen. Schwarzweiß. Es sind Aufnahmen von heute, von Dirk Reinartz. Mauern, zerbrochene Fenster, Gleise, Zäune, Gitter, Tische. Pritschen. Die Bilder erzeugen sehr schnell einen Sog. Jedes Foto bedeutet Mord. Ein Wäldchen und eine Lichtung: „Gelände des Vernichtungslagers“. Wer da keine Gänsehaut bekommt, dem ist nicht beizukommen. Aber ist das Aufklärung? Nein, hier wird nicht erklärt, nichts wird vorgeführt, nichts deutlich gemacht. Die Fotos für sich zeigen nichts Schlimmes. Das Schlimme ist nicht mehr. Hier hat es kaum Spuren hinterlassen. Das Wäldchen zeigt nichts. Es verbirgt den Boden, auf dem das Vernichtungslager stand. Gerade darin aber besteht die Wirkung der Fotos. Wenn es hier möglich war – sagen sie –, dann kann es überall passiert sein. Nichts ist, was es scheint. Die Fotos verunsichern, sie sagen: Trau deinen Augen nicht. Das könnte das Motto einer zweiten Aufklärung sein.

Christian Graf von Krockow hat den Text zum Bildband geschrieben. Darin findet sich eine kleine Betrachtung über die Bedeutung der „Absonderung“ im KZ-System. Einerseits wird allen Insassen jedes Privatleben genommen, es gibt keinen abgesonderten Intimbereich mehr. Andererseits aber ist die Absonderung des Lagers absolut. Selbst wenn man das Lager verließ, war man verpflichtet, niemals darüber zu sprechen. Sonst drohte einem eine erneute Verhaftung ohne die Chance einer Rückkehr aus dem Lager. Krockow schreibt: „Jede moderne Zivilgesellschaft bewegt sich wie selbstverständlich im Spannungsbogen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Öffentlichkeit ermöglicht eine Verhaltenskontrolle durch Recht und Moral auch oder gerade gegenüber denen, die über Macht verfügen. Privatheit ist der Rückhalt der Individualität; in ihr, zudringlichen Blicken und unliebsamer Aufsicht entzogen, können wir uns so verhalten, wie wir selbst es wollen. Das Konzentrationslager, indem es vorsätzlich beides vernichtet, Öffentlichkeit und Privatheit zugleich, schafft einen unerhört neuen, an den Maßstäben der Zivilisation gemessen schreckensvollen Ausnahmezustand.“

„Das Private ist öffentlich“ war einmal eine Parole, auch ein Schlachtruf. Er wollte deutlich machen, daß wir auch in unseren intimsten Regungen – ja gerade in ihnen – gesellschaftlich geprägte Tiere sind, daß es keinen innersten Kern gibt, in dem wir nur wir selbst sind, frei von jedem äußeren Einfluß. Das Private öffentlich zu machen hieß auch, sich dessen bewußt zu werden, daß man nicht allein ist mit seinen Orgasmusschwierigkeiten, seiner Homosexualität. Bald aber entdeckte man die tückische Dialektik der Befreiung. Alles, was die anderen über einen wußten, konnten sie gegen einen verwenden. Desto effizienter, je geschulter sie in den Techniken der Befreiung waren. Es entstand ein Terrorismus der Intimität. Die Erfahrungen mit diesen Entwicklungen werden von Krockow den Blick geschärft haben auf die brutale Raffinesse, mit der die Nazis die labile Balance von Öffentlichkeit und Privatheit zerstörten.

Dirk Reinartz und Christian Graf von Krockow: „totenstill“. Steidl- Verlag, 309 Seiten, zahlreiche Schwarzweiß-Fotos, 68 DM.

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