■ Vom Nachttisch geräumt: RAVENSBRÜCK
Ich konnte das Buch nicht in einem Rutsch lesen. Ich mußte mich immer wieder zwingen, weiterzulesen. Das ist ein Lob. Freya Klier schildert medizinische Experimente im Konzentrationslager Ravensbrück. Polnischen Frauen wurden Wunden zugefügt, die dann mit Bakterienkulturen infiziert wurden. Viele starben, den anderen mußten große Stücke aus den Beinen geschnitten werden. Monatelang höllische Schmerzen.
Freya Klier zeigt Täter und Opfer. Am schrecklichsten ist nicht, was den Opfern geschah. Am erschreckendsten ist der Blick auf die Täter. Die Ravensbrücker Ärzte und Ärztinnen waren weder fanatische Frankensteins, die, was sie taten, für das taten, was sie für den wissenschaftlichen Progress hielten, noch kranke Sadisten, die ein legales Betätigungsfeld für ihre Veranlagung fanden. Die Täter führten vorher und nachher ein ganz normales Leben. Einige waren sozial engagiert, setzten sich für junge Leute ein, sahen zu, daß auch arme Patienten gut behandelt wurden. Ihre mörderische Tätigkeit in Ravensbrück hatte bei den meisten nichts Zwingendes. Sie hatten sich dafür entschieden. In aller Freiheit. Frau Herta Oberheuser zum Beispiel. 1937 wurde sie mit einer dermatologischen Arbeit promoviert. Sie bekommt eine Anstellung in der Düsseldorfer Medizinischen Klinik, wird Mitglied des NS-Ärztebundes. Ihr Gehalt beträgt einhundert Reichsmark. Das ist nur ein Viertel des Lohnes einer SS-Aufseherin mit Sechs-Klassen-Abschluß in Ravensbrück. Als im NS-Ärzteblatt die Stelle einer Lagerärztin in Ravensbrück inseriert wird, bewirbt sie sich. Freya Klier beschreibt, wie aus dieser ganz normalen Frau eine der schlimmsten Schinderinnen wurde, und wie sie es verstand, auch wieder aus Ravensbrück herauszukommen. Das ist das Beängstigende: Jeder scheint zum Schlimmsten fähig zu sein.
Freya Klier: „Die Kaninchen von Ravensbrück – Medizinische Versuche an Frauen in der NS-Zeit“. Knaur Taschenbuch, 320 Seiten, 16 s/w Fotos, 12,90 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen