Vom Migranten-Kind zum Pariser Künstler: Das Vokabular des Vandalismus
Kader Attia ist in einer der berüchtigten Vorstädte von Paris groß geworden. Doch irgendwann ging er lieber in den Louvre statt zum Breakdance. In seiner Kunst vereint er beides.
Hätte Kader Attia sich nicht für die Kunst entschieden, wäre er wahrscheinlich Taschendieb geworden. Mit zwölf arbeitete Attia, Sohn muslimisch-algerischer Einwanderer, jeden Sonntag auf dem Markt von Sarcelles. Seine Aufgabe war es, den Stand eines Textilhändlers zu bewachen. Von seinem Posten aus beobachtete er die Taschendiebe, die über den Markt streiften. Eines Tages bemerkte der Junge, wie einer der Diebe einer Frau die Geldbörse stahl. "Er hat mich dabei direkt angesehen", erinnert sich Attia. "Nur mit seinen Augen hat er mir klargemacht, dass ich die Klappe halten soll." Er hielt die Klappe. Von da an kam der Dieb jeden Sonntag wieder und beklaute die Kunden vor dem Textilstand. "Wir wurden so was wie Freunde", sagt Attia. Er hat die Taschendiebe bewundert. "Sie waren frei. Ich klebte an diesem Marktstand fest."
Sarcelles ist eine der gesichtslosen Vorstädte von Paris. Man ahnt noch, dass sich hier ein Stadtplaner in den Fünfzigern mit Enthusiasmus an die Sache gemacht hat. Es gibt Grünflächen zwischen den Blöcken, teilweise mit Spielplätzen. Es gibt sogar Kunst: Das Mosaik einer Ente auf dem Bürgersteig ist von verkrusteten Teerschichten überwuchert. An der Wand des kleinen Einkaufszentrums mit dem schicken Namen Les Flanades klebt ein schmutziges Relief. Fliegende Wildgänse.
Der Vorstadtzug vom Gare du Nord bringt die Pendler zurück aus Paris. Mehr als ein Drittel der Bewohner von Sarcelles sind Immigranten aus dem Maghreb, Schwarzafrika, der Karibik - aber auch Pieds-noirs. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 Prozent. Ein soziales Pulverfass. Im vergangenen November kamen im Nachbarort Villiers-le-Bel zwei Jugendliche bei einem Unfall zwischen einem Kleinmotorrad und einem Polizeiauto ums Leben. Danach gab es dort die schwersten Unruhen seit Jahren. Die Krawalle griffen auf Sarcelles über. Auch in Kader Attias Heimatviertel Dame Blanche brannten Autos. "Ich mache Kunst nicht, um über Kunst zu sprechen, sondern über Politik", sagt Attia. Allerdings will er das Ästhetische dabei nicht vom Politischen trennen. Wenn es Kunstwerke gibt, von denen man sich vorstellen kann, dass sie die Gefühle der frustrierten Jugendlichen der Banlieue abbilden, dann sind es die des 37-Jährigen. 2006 stellte Attia im Kunstmuseum von Lyon einen Raum mit 170 Kühlschränken voll, auf die er Reihen schwarzer Fenster malte. Ein Gefrierwürfellabyrinth als Symbol für die trostlosen Häuserschluchten von Dame Blanche. In einem anderen Raum hingen Leuchtkästen mit zerschmetterten Gläsern. Man kennt den Anblick von Bushaltestellen. "Ich wollte dieses besondere Vokabular des Vandalismus festhalten", erklärt Attia.
Das beeindruckendste Kunstwerk der Lyoner Ausstellung waren allerdings drei halbrunde Fenster, deren vermeintlich arabische Ornamente aus hunderten zusammengeschlossener Handschellen bestanden. Frustration, Ohnmachtsgefühle und die Alltäglichkeit der Gewalt sind Leitthemen, die zu dieser Zeit in vielen Arbeiten Attias auftauchten. Sie speisen sich aus den Beobachtungen der Künstlers: "Wer nie in einem Wohnblock gewohnt hat, kann sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, von dort ins Zentrum von Paris zu gelangen", sagt er. "Wenn abends keine Züge mehr fahren, sind die Vorstadtjugendlichen praktisch von Zentrum ausgeschlossen."
Gegen das Gefühl des Gefangenseins hilft manchmal nur tanzen. Als Teenager war Attia Breakdancer. Mit seinen Freunden traf er sich in den Flanades. In einem versteckten Winkel des Einkaufszentrums übten sie ihre Moves. Wenn sich Breakdancer auf dem Kopf drehen, dann verschwindet die Betonwelt um sie herum in einem Farbenstrudel. Die Welt hat sich seitdem weitergedreht für Kader Attia. Jetzt lebt er im 19. Pariser Arrondissement in Paris, nicht mehr in der Vorstadt. Attias Atelier liegt auf einem Hinterhof in der Nähe vom Parc de la Villette. Hinter dem Haus rumpeln auf einem Bahndamm Pendlerzüge Richtung Vorstadt vorbei. Ein Raum unter dem Dach dient Attia als Gedankenfabrik. Die Miete für das Lagerhaus teilt er sich mit anderen Künstlern. Alleine wäre es zu teuer. Er könnte Zuschüsse bei der Regierung beantragen, will er aber nicht. "So wird man schnell zum Künstlerfunktionär." Sein Verhältnis zu den Institutionen ist gespalten. Seit er 2006 im Palais de Tokyo eine Wandinstallation aus Polizeischlagstöcken zeigte, scheinen sich die französischen Museen eher zurückzuhalten, behauptet er.
Dabei hat Attia dem Staat einiges zu verdanken, sagt er. Vor allem an das ansonsten heftig kritisierte Schulsystem scheint er zu glauben, er hatte wohl das Glück, gute Lehrer zu haben. "Das Gute an Frankreich ist, dass fast jeder eine Chance bekommt, etwas aus sich zu machen." Sein besonderes Zeichentalent war damals François, einem Lehrer für "schwer erziehbare Jugendliche", aufgefallen. François schleppte Attia in den Louvre, sagte ihm, dass der Eintritt kostenlos sei und dass er daher immer wiederkommen könnte. Attia kam wieder, betrachtete die Bilder, verliebte sich in ein Mädchen seiner Schule, das aussah wie aus einem Gemälde von Vermeer, und konnte es ihr nicht erzählen. Denn Sarcelles-Mädels interessierten sich nur für Hiphopper. Attias alte Breakdance-Freunde lachten über die Besuche im Louvre. "In dieser Zeit wurde ich sehr einsam", erinnert sich Attia. "Aber es war mir egal. Ich war nicht traurig. Die Kunst hatte mir ein Fenster in eine andere Welt geöffnet." Später hat er sogar an der renommierten École Nationale des Arts Décoratifs studiert. Das ist schon außergewöhnlich für einen Vorstadtjungen.
"Die Landebahn" hieß das erste große Projekt, mit dem Attia nach dem Studium bekannt wurde. Der Titel spielt auf die großen Ausfahrtsstraßen von Paris an, auf denen algerische Transvestiten versuchen, bei französischen Freiern zu "landen". In einem Fotozyklus, der mit seiner schonungslosen Direktheit an Bilder von Nan Goldin erinnert, zeigte Attia das Leben dieser Transvestiten am äußersten Rand der Gesellschaft. "Die meisten waren illegal in Frankreich, typische sans papiers." Der Künstler beschloss, ihnen zu helfen, engagierte sich in einer Flüchtlingsorganisation. Und er stellte seine Fotos aus. Das Medienecho war gewaltig. Am Ende bekamen die meisten der nordafrikanischen Transvestiten ihre Aufenthaltsgenehmigung von der französischen Regierung. "Das Projekt hat tatsächlich ein bisschen die Welt verändert", sagt Attia. "Aber mir ist natürlich klar, dass die Kunst ihre Grenzen hat. So wie alles seine Grenzen hat."
Die Beschränktheit der politischen Kunst versucht er mit poetischen Mitteln zu überwinden und sie so für die Zukunft zu retten. "Der große Ideologienkonflikt ist passé. Der Sozialismus ist gescheitert. Der Kapitalismus hat seine integrative Kraft verloren", sagt Attia. Die Zeit platter Botschaften sei daher abgelaufen. "Heute ist es viel interessanter, das Gegenteil von dem zu zeigen, was man meint." Als Antwort auf das alltägliche Blinken der schönen, neuen Warenwelt hat der Künstler die Leere entdeckt. Er bewundert die Philosophie Laotses und die Radikalität des französischen Künstlers Yves Klein, der in den Fünfzigern eine Galerie ohne Kunstwerke zur Ausstellung erklärte.
"Für mich ist Kunst all das, was man nicht sieht", sagt Attia. Während draußen wieder einmal ein Vorstadtzug vorbeirumpelt, zeigt der Künstler in seinem Atelier auf einen Tisch. Darauf hat er einige leere Plastiktüten drapiert, die er so auch in seiner aktuellen Ausstellung in der Henry Art Gallery in Seattle zeigt. Seine Inspiration waren diesmal die Vorstadtfrauen, die ihre Einkäufe aus dem Billigsupermarkt nach Hause tragen. "Wir haben das alle tausendmal gemacht: die Milch in den Kühlschrank gestellt und die Tüte auf dem Küchentisch liegen lassen", sagt Attia. Der verbleibende Abdruck der Waren im Schlund eines Plastikbeutels ist für ihn die Verkörperung eines konkreten Moments. Und seiner Vergänglichkeit, seiner Fragilität. "Die traurige Realität einer Plastiktüte birgt unendliche Möglichkeiten, Skulpturen zu schaffen", sagt Attia. Da klingt er ein bisschen wie Jacques Prévert, der Dichter des französischen Alltags.
Mit seiner Poetik der politischen Kunst wird der Künstler aus Sarcelles jetzt weiterziehen. Er sitzt in seinem Atelier auf gepackten Koffern. "Migration ist etwas ganz Natürliches, es ist keine Krankheit", sagt er. "Die Angst vor Migranten ist dagegen eine verbreitete Neurose. Wenn die Menschen in der westlichen Gesellschaft ihre eigene Migrantenvergangenheit akzeptieren könnten, wären sie vielleicht aufgeschlossener gegenüber anderen Einwanderern." Attias eigene Geschichte wird nun um ein Kapitel erweitert. Die teuren Mieten treiben ihn doch noch aus Paris heraus. Also wird er den Weg gehen, den in den letzten Jahren schon viele Künstlernomaden genommen haben: Er hat sich eine Wohnung in Berlin gemietet.
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