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„Volkspolizei, steh dem Volke bei!“

■ Sonntag abend in Ost-Berlin: 4.000 demonstrieren im Bezirk Prenzlauer Berg / Ob jung oder alt - sie wollen „miteinander reden“ und lassen sich nicht mehr nach Hause schicken / Kessel und Prügeleinsätze

Niemand weiß, was geschehen soll, und trotzdem bleiben alle da. Schon um zu warten, ob die Eingeschlossenen an der Ostberliner Gethsemanekirche freikommen. Der Gottesdienst am Sonntag abend ist kaum vorbei, die letzten der gut 2.000 haben den roten Backsteinbau noch nicht verlassen, da sind schon alle Straßen von Uniformierten abgesperrt. „Bürger, verlaßt diesen Ort!“ werden die Kirchenbesucher aufgefordert, aber die Möglichkeit, dem Befehl nachzukommen, wird durch die Polizei selbst verhindert.

Knappe 100 Meter entfernt und getrennt durch Ketten von Polizeiwagen und Staatssi cherheitsleuten, an der Ecke Schönhauser Allee/Stargarder Straße, haben sich gegen 20Uhr weit mehr als 1.000 Menschen versammelt. Kerzen werden angezündet und vereinzelt Parolen gerufen: „Volkspolizei, steh dem Volke bei!“ Eher ratlos wird dem Aufzug der Staatsmacht entgegengesehen: Warum tun die das, wo wir doch nur ruhig und friedfertig zusammensein wollen?

Grundsatzdiskussionen über die Zukunft werden hier nicht geführt. Zu hören ist immer wieder, daß erst einmal Raum geschaffen werden muß, um miteinander reden zu können. Es braucht Zeit und Geduld, sich auszutauschen, sagen sie, und die nehmen wir uns. Vor allem die Bereitschaft demonstrieren sie, sich nicht mehr in die anonyme Privatheit zurückweisen zu lassen.

Unter den vielleicht 4.000, die an diesem Abend im Bezirk Prenzlauer Berg auf der Straße sein mögen, dominieren zwar die Jüngeren, doch alle Altersgruppen sind irgendwie vertreten - von Familien mit Kindern bis zu grauhaarigen Rentnern. Von den meisten, die aus den Fenstern der umliegenden Häuser lehnen, kommt Zustimmung. Vom Balkon des ersten Stocks wirft ein etwa Sechzigjähriger Kerzen zu den Demonstranten, über die Köpfe von mehr als 200 Polizisten hinweg. Er klatscht dem freudigen Johlen ebenso Beifall wie der Straßenbahnfahrer, der seinen leeren Zug Richtung Innenstadt bewegt.

Gegen 21 Uhr rücken aus dieser Richtung Lastwagen an; ihre Kühler bewehrt mit rot-weißen Gittern, sehen sie aus wie Schneeräumer, die jetzt Menschen zur Seite schieben sollen. Es folgen Wasserwerfer. Beamte bilden dichte Reihen, damit keiner wie am Vortag zum Alexanderplatz kommt. Hundestaffeln versperren Seitenstraßen, blitzschnell ist die Schönhauser Allee auch Richtung Norden dicht. Die Fluchtmöglichkeit auf den Bahnsteig der S-Bahn wird verschlossen. Junge, kaum zwanzigjährige Stasi-Leute greifen sich einzelne und schleifen sie unter heftiger Gegenwehr weg.

Noch immer sind die meisten nicht nach Hause gegangen. Es ist eine eher stumme Beharrlichkeit, so etwas wie Öffentlichkeit herzustellen. Darf er, fragt einer, nicht hier auf dem Bürgersteig stehen, wo er doch Bürger ist? Und als ein Stasi-Beamter das gewalttätige Vorgehen damit begründet, die Bürger dieser Gegend seien nicht gefragt worden, ob sie „das“ (gemeint ist das friedliche Schweigen) nicht als Ruhestörung empfänden, geht ein anderer ins Haus und kommt mit der ironischen Antwort zurück: „Genosse, die Menschen da oben sagen, sie wollen Veränderungen in dieser DDR.“ Wem der Kragen platzt und wer den behördlichen Dummkopf einen „Bullen“ nennt, muß sich von Mitdemonstranten sagen lassen: „Bleib bitte sachlich!“

Die Absperrungen haben die Versammlung in kleine Gruppen zerstreut. Ob die Kirchenbesucher mittlerweile abziehen konnten, weiß niemand. Immer mehr steigen nun in die S-Bahn. Am Alexanderplatz ist außer grünen Uniformen nichts zu sehen. Fahrgäste, die aus- oder umsteigen wollen, werden zurückgestoßen und müssen weiterfahren. Fast ungläubiges Kopfschütteln begleitet diese Sinnlosigkeit. Die Mahnwache und das Fasten für die Inhaftierten werden in der Gethsemanekirche weitergehen. „Glauben die denn“, fragt einer, „wir hören noch einmal auf?“

Willy Mossop

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