Volkskrankheit Inkontinenz: Nicht mehr ganz dicht
Rund sechs Millionen Menschen in Deutschland haben ihren Urin nicht unter Kontrolle. Mit Windeln, Kathetern und Operationen kämpfen sie gegen die Krankheit.
Bei Walter Raaflaub kam die Inkontinenz am 20. April 2003. "Komisches Gefühl, vollkommen undicht zu sein", notiert er in seinem Tagebuch. Es ist der Beginn einer jahrelangen Odyssee, während der er Windeln anzieht, seine Ehe in Gefahr geraten sieht und an Selbstmord denkt. Das ist inzwischen überwunden - und sein Tagebuch hat er veröffentlicht, um das Tabu zu brechen.
Ein halbes Jahr vor dem entscheidenden Datum hatte der damals 61-jährige Arzt aus der Schweiz erfahren, dass er Prostatakrebs hat. Rund drei Prozent aller Männer sterben an dieser Krankheit. Mit einer Operation steigt die Lebenserwartung um zehn Jahre.
Bei Raaflaub wird die gesamte, etwa kastaniengroße Prostata entfernt, die direkt unter der Blase liegt. Er verliert auch den Abschnitt der Harnröhre, der durch die Prostata verläuft. Nach der Operation kann Raaflaub den Urin nicht mehr halten. "Nun also kommt eine neue Zeit: die Windelzeit. Hoffentlich für nicht allzu lange", schreibt er in sein Tagebuch.
In etwa einem Prozent der Fälle können Männer nach der Operation dauerhaft ihren Urin nicht mehr kontrollieren. Etwa fünfzig Prozent tropfen leicht, wenn sie husten, niesen, heben oder lachen.
Raaflaub beginnt mit der Therapie. Doch ein Training der Beckenbodenmuskeln bringt keinen Erfolg. Raaflaub zieht weiter Windeln an.
Mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland sind inkontinent, schätzt die Deutsche Kontinenzgesellschaft. Es kann viele Ursachen für das Leiden geben - denn Inkontinenz ist keine eigene Krankheit, sondern das Symptom verschiedener Krankheiten. Inkontinenz kann auch natürlichen Ursprungs sein - während der Schwangerschaft hat jede zweite bis dritte Frau Probleme mit der Blase.
Eine andere Ursache ist hohes Gewicht. "Übergewicht erhöht den Druck im Bauchraum, wodurch auf Dauer die Muskulatur und der Bandapparat des Beckenbodens geschwächt werden", erklärt Christian Albring, Präsident des Berufsverband der Frauenärzte. Die Beckenbodenmuskulatur muss aber intakt sein, damit sie Druck auf die Harnröhre ausüben und sie so verschließen kann. Bei besonderer Belastung wie etwa beim Niesen kann es dann tröpfeln.
opentaz - Der Wunsch: Manfred Friedag mailte uns: "Inkontinenz ist nicht nur in der Altenpflege ein Problem. Dort habe ich es bei meiner Mutter und Schwiegermutter wirklich nah erfahren. Die Betroffenen leiden entsetzlich unter dem Verlust ihrer Würde. So wird es ja empfunden. Das Personal ist meistens sehr souverän, und die Angehörigen wollen meistens gar nichts davon wissen (ist ja teuer genug, das Pflegeheim). Inkontinenz müsste einmal im allgemeinen Bewusstsein als Fakt zur Kenntnis genommen werden. Dann müsste die Forschung einmal so gewürdigt werden wie z. B. Krebsforschung, und weiter müssten Hilfsmittel ebenso würdevoll behandelt werden wie in anderen Bereichen. Über eine Chemotherapie lästert keiner. Über Vorlagen (Pampers) meinen alle Witzchen machen zu müssen. Und das oft im Beisein der Betroffenen.“
Der Weg: Schicken Sie Ihre Anregung an open@taz.de oder an die tageszeitung, Sebastian Heiser, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin.
Walter Raaflaub: "Tote Hose - Worüber Männer schweigen". Wörterseh Verlag, 320 Seiten, 21,90 Euro
Problematischer ist die sogenannte Dranginkontinenz, an der etwa zwei bis drei Millionen Betroffene leiden. Sie verspüren in ihrem Alltag plötzlich einen großen Harndrang - so wie Gesunde nach einer stundenlangen Autofahrt. Der Urin lässt sich nicht aufhalten und kommt nicht tröpfchenweise, sondern schwallartig. Als Ursachen kommen eine Blasenentzündung, eine gut- oder bösartige Vergrößerung der Prostata oder auch ein besonders schwacher Blasenmuskel in Frage.
Vor allem Frauen sind betroffen. Jede fünfte Frau über 30 Jahren hat ständig im Hinterkopf, wie sie zur Not schnell auf die nächste Toilette kommt. Längere Reisen vermeiden sie. Und die meisten Betroffenen schweigen trotz des oft hohen Leidensdrucks und starker Beeinträchtigungen im Alltag - manche verlassen vor Scham nicht einmal mehr das eigene Haus.
Bei Raaflaub kam noch Impotenz dazu - eine sehr häufige Folge einer Prostata-Operation. Das merkt er schon im Krankenhaus beim Fernsehen: "Ein Sender bringt Erotik. Nichts tut sich bei mir. Nichts, nichts. Alles und noch viel mehr hat man weggeschnitten, also auch das Gefäßnervenbündel in Kapselnähe. Und damit die Potenz." Auch beim Petting mit seiner Frau tut sich nichts: "Zu guter Letzt spüre auch ich, wie schon gestern, irgendwo im Untergeschoß den Hauch eines Schauers. Obschon er liegt wie tot."
Erektionsprobleme können eine Beziehung stark belasten. In dem Potenz-Internetforum Menshelp beschreibt ein Benutzer seinen Leidensweg: "Einmal funktioniert es nicht, obwohl ich will, dann habe ich Angst, dass es wieder nicht funktioniert, dann habe ich Angst, dass ich die Angst bekomme, irgendwann vergeht einem die Lust auf Sex. Und das hat weitreichende Auswirkungen bis hin zur Partnerwahl (ja keine Frau, wo ich mir denke: WOW!), das Selbstwertgefühl leidet darunter, das Leben ist im Arsch."
Raaflaub behalf sich schließlich mit Hilfsmitteln wie einer Vakuumpumpe oder dem Wirkstoff Prostaglandin, der während des Vorspiels direkt in den Penis gespritzt wird. Doch die Inkontinenz blieb. Beim Sex musste er zum Abdichten ein Kondom überstreifen: "Trotz der Erektion, die ja beim Gesunden das Urinieren verhindert, bleibe ich eine Spur undicht. Er steht, aber er tröpfelt!"
Raaflaub ließ sich schließlich einen künstlichen Blasenschließmuskel einsetzen. Er besteht aus einem Ventil im Hodensack, einem Reservoir im Unterbauch und einer Manschette um den Penisschaft. Dadurch war er weitgehend abgedichtet - er brauchte keine Windeln mehr, sondern kommt mit zwei Slipeinlagen pro Tag aus.
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