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Volkskammer behandelt Strafverkürzung

■ Ein Drittel der Haftzeit soll erlassen werden/ Kriegsverbrecher und Mörder ausgenommen/ Zweidrittel-Regelung nach BRD-Recht für Lebenslängliche möglich/ Untersuchungshäftlinge in Dresden fordern weiter Generalamnestie

Berlin (ap/dpa) — Das Präsidium der DDR-Volkskammer hat dem Parlament am Freitag angesichts der anhaltenden Proteste in den Gefängnissen des Landes vorgeschlagen, die Strafen der Häftlinge um ein Drittel zu kürzen. Nach den Worten von Parlamentsvizepräsident Reinhard Höppner sollten verurteilte Mörder, Kriegsverbrecher sowie schwere Gewalt- und Sexualverbrecher von dem Straßerlaß ausgenommen werden. Die Regelung soll dem Gesetzentwurf zufolge für Häftlinge gelten, die vor dem 1. Juli 1990 verurteilt worden sind. Die Insassen der Untersuchungshaftanstalt Dresden wiesen den Vorschlag aber sofort zurück und forderten eine Generalamnestie.

Über den Gesetzesentwurf, der kurzfristig vom Präsidium erarbeitet worden war und zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen wurde, sollte noch am Freitag abgestimmt werden. Das Papier sieht weiter vor, alle Häftlinge, die durch die Strafermäßigung ihre Strafzeit abgesessen haben, bis zum 2. Oktober zu entlassen. Für Haftzeiten, die die Gefangenen über die vorgeschlagenen zwei Drittel hinaus schon verbüßt haben, ist keine Entschädigung vorgesehen. Bei mehreren Strafen soll die Verkürzung auf jede einzelne bezogen werden.

Unabhängig von der Strafermäßigung soll jeder Gefangene das Recht haben, die Überprüfung seines Urteils durch einen unabhängigen Ausschuß zu beantragen, wenn er vor dem 1. Juli dieses Jahres verurteilt wurde. Für die Überprüfung dieses Urteils sollten aber nicht diejenigen zuständig sein, die es gefällt hätten, sagte Höppner. Eine generelle Amnestie lehnte er ab.

Die zu lebenslänglicher Haft Verurteilten werden nach dem ab 3. Oktober geltenden bundesdeutschen Bestimmungen behandelt, erläuterte Höppner weiter. Ihr Urteil werde in eine fünfzehnjährige Haftstrafe umgewandelt. Deshalb seien die Lebenslänglichen nicht extra in das Gesetz aufgeommen worden.

Das Volkskammerpräsidium, das bis in die Nacht tagte, hat nach den Worten von Höppner inzwischen den Generalstaatsanwalt beauftragt, in denjenigen Fällen Haftaussetzung anzuordnen, in denen Personen länger als drei Monate in Untersuchungshaft sitzen. Nach drei Monaten, so Höppner, müsse der Prozeß eröffnet sein oder Haftaussetzung erfolgen.

Auf den Gesetzesentwurf der Volkskammer reagierten die Insassen der Untersuchungshaftanstalt Dresden mit Empörung. In einer über den Rundfunk verbreiteten Erklärung kritisierten die Gefangenen, die 40jährige Terrorjustiz habe die Menschen zu Straftätern gemacht. Die Antwort darauf könne nur der Erlaß sämtlicher Strafen sein, zitierte die Nachrichtenagentur 'adn‘ aus der Stellungnahme. Was im Falle eines anderen Beschlusses passiere, sei noch nicht abzusehen.

Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl hatte zu Wochenbeginn die Beratungen über eine Teilamnestie als Reaktion auf die Gefangenenproteste in mehreren Städten angekündigt. Eine generelle Amnestie, wie sie die Häftlinge fordern, lehnte die Regierung jedoch zugleich ab. Auf Wunsch der zuständigen DDR-Stellen waren Strafvollzugsexperten und Richter aus der BRD nach Ost-Berlin gereist, um die technischen und rechtlichen Probleme zu erörtern.

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