Volkes Stimme versöhnt

■ „Die Birnen von Ribbeck“ — eine mißglückte Dramatisierung der gleichnamigen Erzählung von F. C. Delius in Stendal

Der neue alte Herr über 700 Hektar Havelland, jüngster Sproß aus dem Stammbaum derer von Ribbeck, trägt weder Reitpeitsche noch Hoheitsmiene, sondern Kaschmirschal und Pokerface. Aber nein, versichert er dem Mikrofon, der Fernsehkamera, der ganzen tagesthemen-Gemeinde: Er werde keinesweg auf sein Eigentumsrecht pochen, er wolle weder besitzen noch besetzen, aber er sei ja doch irgendwie verwachsen mit diesem einst so blühenden, nun so darbenden Landstrich, da fühle er sich geradezu verpflichtet, diesem planmäßig heruntergewirtschafteten Ribbeck ein wenig Entwicklungshilfe angedeihen zu lassen, möglichst zwanglos, das Alte dem neuen nicht gänzlich unterjochend: „Also keine Mikrochips — aber vielleicht Kartoffelchips.“ So spendet Segen noch immer die Hand...

Jener gönnerhafte Gutsherr, der in Fontanes Birnbaum-Ballade die Kinder mit seinem Fallobst anlockt und abspeist, dessen Legende, eine Einflüsterung, beharrlich aus den Gräbern der Geschichte wächst, sich über sie hinweg fortpflanzt und immer neue Früchte trägt, in denen immer der alte Wurm drin ist — dieser Wohltäter aus der Wundertüte wird in Friedrich Christian Delius' Erzählung Die Birnen von Ribbeck in ein erhellendes Zwielicht gerückt, er ist das Versprechen und der Betrug, Vor- und Zerrbild, Phantom und Perversion in Personalunion.

Delius' Amok-Monolog (auf siebzig Seiten kein einziges Satzzeichen, das zum Verschnaufen einlädt, kein bequemer Anhalts-Punkt) entspricht einem vom Birnengeist entfesselten Kopf. Die Situation: Eine Wessi-Offensive aus dem vierzig Kilometer entfernten Berlin hat das berühmte Dorf heimgesucht, im März 1990, um mit Erbsensuppe und Freibier ganz spontan die deutsche Einheit zu feiern. Mitgebracht haben die „Sonnenmenschen“ einen neuen Birnbaum, eine Edelzüchtung, den sie, in Spendier- und Siegerlaune, ihren armen Vettern sogleich in den Heimatboden rammen, wie der Eroberer sein Banner, ohne Blick, ohne Rücksicht auf das, was da schon wurzelt trotz alledem, ein bißchen mickrig, knorrig, natürlich unfruchtbar, aber eben: selbstgepflanzt.

Eine Identität als Gastgeschenk, das muß begossen werden. Der Rausch aber schwemmt die verflossenen, die abgetriebenen und aufgestauten Geschichten hoch, all jene, die sonst im Strom der Geschichte versickern. Die wiedergewonnenen Worte treten über die Ufer, reißen die Gedanken mit sich, und einer der Ribbecker läßt ihnen ihren überschwappenden, um sich schnappenden, sich verzweigenden Lauf, der sich zur Wahrheit verwirrt: Ob Blaublütler, Braunhemden oder Rotkäppchen das Land bestellten, ob die Leibeigenschaft, der Naziterror oder das Plansoll am Birnbaum rüttelte — für die Menschen, die ihn hegten, fiel dabei nichts ab.

Die jahrhundertelange Fremdherrschaft hat ihre Seelen so zugerichtet wie ihre Äcker, hat sie mißbraucht und ausgebeutet, geschliffen und verödet. Nun rückt das Faustrecht des Marktes an, mit Sense und Pflug. Und der alte Ribbeck wispert nur noch: Test the West.

In Stendal, am Theater der Altmark, ist man auf die nicht eben glückliche Idee verfallen, Delius' reißenden Redefluß in ordentliche Kanäle zu leiten, und hat ihn so um seine Sogwirkung gebracht. Fünf Dorfbewohner hocken hier vor Gitterzaun und Baugerüst, zwischen geleerten Schnapsflaschen und geknickten Pappbechern. Fünf Haltungen werden verkörpert: der dumpfe Defätismus, die grelle Verzweiflung, die renitente Skepsis, die jauchzende Aufbruchslust der Jungen und die stille Ergebenheit der Alten. Jedem das Seine.

Doch im Kopfraum, den die Erzählung eröffnet, im Hirn des sich nüchtern trinkenden Erzählers, torkeln diese widersprüchlichen Gefühle durcheinander, greifen haltlos um sich, richten sich aneinander auf, stürzen gemeinsam nieder, ein einziges Taumeln und Tasten, „denn alles brach zusammen hoch“. Die Eigenart des Textes, der in seiner Sprache die buchstäbliche Bodenlosigkeit eines um sich selbst betrogenen Menschen abbildet, wird in der Theatralisierung von Goswin Moniac verspielt. Stammtisch-Atmosphäre, in der jeder irgendwie recht hat und alle einander auf die Schulter klopfen: Mußte ja mal gesagt sein.

Die vom Regisseur auseinandergepfückten und neu verflochtenen Stimmen fügen sich nun spannungslos ineinander, sie haben Anschluß, ihr inniger Widerstreit ist aufgehoben, und so versöhnen sie sich: zu Volkes Stimme. Die Einspielung der Ribbeck-Reportage ist der eigenständigste Regieeinfall des Abends, alles andere bleibt Illustration: von Coca-Cola bis Lambada, von Marius Müller-Westernhagen bis Achim Reichel. Stürzende Tische, platzende Luftballons und splitternde Gläser sollen im Bild einfangen, wie ein Bewußtsein, eine Gesellschaft in Scherben fällt. Bei Delius aber kann schon ein einziges tückisch plaziertes Komma den Knacks markieren, an dem ein Kopf zu zerbrechen droht: Wer ihn hören will, der lese. Meike Scheffel

Die Birnen von Ribbeck. Nach einer Erzählung von F.C. Delius. Regie: Goswin Moniac. Bühne: Hannes Fabig. Theater der Altmark Stendal. Nächste Aufführungen: 9., 20. und 28.Februar.