: Virtuose Wortkaskaden
Dialoge zwischen den Geschlechtern: Rosas, tg Stan und Aka Moon eröffnen mit „In Real Time“ die Saison auf Kampnagel ■ Von Marga Wolf
Der Supergau blieb aus. Mittlerweile zählt das neue Jahrtausend fast ein Jahr. Endzeit oder Aufbruch? Diese Frage wühlte die Gemüter auf und beschäftigte die Ak-teure in der Kreationsphase zu dem Stück In Real Time, einer Kooperation der Tanzcompagnie Rosas, dem Schauspielerkollektiv tg Stan und der Jazzformation Aka Moon, allesamt aus Brüssel, mit dem Kampnagel am 27. September seine Spielzeit, die letzte von Res Bosshart, eröffnet.
„Ist das hier ein Anfang oder ein Abschied?“ „Hat es überhaupt schon angefangen?“ – Dialoge zwischen den Geschlechtern, zwischen Körper und Sprache, zwischen den Disziplinen. Fragen, die nicht beantwortet werden können und wollen. Ein Schlagabtausch, der mit Tanz, Wortkaskaden und musikalischen Attacken jedoch den Augenblick hinreißend und virtuos beim Schopf zu packen versteht. Insgesamt drei Stunden lang.
Und so hatte es angefangen mit diesem außergewöhnlichen Projekt: Im November 1999 versammelten sich die Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker und ihre 13 Rosas-Tänzer, die vier Schauspieler von tg Stan, darunter Anne Teresas Schwester Jolente de Keersmaeker, und die vier Musiker von Aka Moon um einen Tisch. Hinzu gebeten hatten sie den niederländischen Autor Gerardjan Rijnders. Der hörte einfach nur zu, um anschließend aus den Gesprächen um Zweifel, Ängste und Hoffnungsschimmer einen Dialog zwischen Mann und Frau zu spinnen, der sich nun wie ein roter Faden zwischen der Tänzerin Taka Shamoto und dem Schauspieler Frank Vercruyssen durch das Stück zieht. In Real Time, der Titel des Projekts, bezeichne das Echtzeiterlebnis der Performance, erläutert de Keersmaeker. „Neue Technologien und die Entwicklungen der Medienwelt“, merkt die Choreografin an, „haben unsere Wahrnehmung von Zeit während der letzten zehn Jahre total verändert. Diese Wandlung des Zeitbegriffs auf verschiedenen Ebenen zu betrachten, war ein wichtiger Teil der Recherche zum Stück.“
Dagegen war es dem Hamburger Publikum in diesem Sommer leider nicht vergönnt, die künstlerische Entwicklung der Ausnahmechoreografin quasi im Zeitraffer direkt vor Augen geführt zu bekommen. Fase, de Keersmaekers Durchbruchserfolg von 1982, getanzt von ihr selbst und von Michèle Anne de Mey, war eingeladen, im Juli das Internationale Sommertheater Festival zu eröffnen. Wegen Krankheit musste das Gastspiel abgesagt werden.
De Keersmaeker, die als Revolutionärin des zeitgenössischen europäischen Tanztheaters nach Pina Bausch gilt, hatte zu Beginn der 80er mit ihrer streng strukturierten, dabei jedoch hoch emotionalen Tanzsprache den belgischen Tanzboom initiert. Seit 1992 ist Rosas „compagnie in residence“ an der Brüsseler Oper La Monnaie. Der Stil der Choreografin erscheint heute großzügiger, fast lässig. Doch der erste Eindruck täuscht. Unter der Oberfläche hält ein intelligentes, genau kalkuliertes System die hingeworfenen Tanzsequenzen zusammen. Doch wehrt sich de Keersmaeker stets heftig dagegen, als „System-Freak“ zu gelten. „Struktur“, sagt sie, „interessiert mich nur in soweit, als dass sie die Emotionen hervor bringt.“ Und die schlagen in ihrem jüngsten Werk riskante Wellen. Es ist zudem nach I said I und Just Before der letzte Teil einer Trilogie, in der sie das Zusammenspiel von Bewegung und Sprache untersucht. Quartett nach Heiner Müller, das im April auf Kampnagel gastierte, war das erste Ergebnis der Kooperation von Rosas und dem Schauspielerkollektiv tg Stan, und auch das erste Gemeinschaftswerk der Geschwis-ter de Keersmaeker.
Die Frage jedenfalls, wann für sie die Bewegung aufhört und die Sprache einsetzt, will die Choreografin nicht ausschließlich beantworten: „Alltäglich ist, dass wir beides kombinieren. Man benutzt Worte und gebraucht den Körper. Mit beiden sind starke Aussagen möglich. Außerdem“, fügt sie hinzu, „liebe ich den Wechsel.“
Irmela Kästner
Mittwoch, 20 Uhr, Kampnagel, Halle k6
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