Village Voice: Gewaltige Klangungetüme
■ Stachelhaut von Sandow
Sollte die Stadt jemals Preise für Sperrigkeit verleihen, Sandow und ihr schmermütiger Rock wären dafür nach dem ICC gleich die ersten Anwärter. Erst vor wenigen Tagen eckte ihr Sänger Kai-Uwe Kohlschmidt bei einer Diskussionsveranstaltung im Filmmuseum Potsdam an, wo ihm von Ulf Poschardt und danach in dieser Zeitung rechte Tendenzen unterstellt wurden. Bei telefonischer Nachfrage fühlt sich Kohlschmidt in der taz jedoch verdreht zitiert.
Es sei, wie es sei. Provokant waren Kohlschmidt und seine Band schon in ihren Anfängen. Der legendäre DDR-Dokufilm „Flüstern & Schreien“ beschrieb gut zwei Jahre vor der Wende ihre Weigerung, sich in herrschende Strukturen einzufügen. Man kam aus Sandow in Cottbus, schrieb mit „Born in the GDR“ unfreiwillig die Hymne zur Wende und klang dann schnell wie ein Haufen jugendliche Delinquenten auf der Suche nach den Einstürzenden Neubauten. Inzwischen wohnt Kohlschmidt in Berlin, am musikalischen Entwurf hat sich nichts Grundsätzliches verändert, auch wenn der Weg der Band von den Punkschuppen der Republik in ihre Staatstheater führte.
Die neueste Veröffentlichung des Quartetts heißt „Stachelhaut“. Weil vor 20 Jahren Tarkowskis „Stalker“ entstand und dieser Film für Kohlschmidt eine „Initialzündung“ war, „in der ich alles wiedergefunden habe, worum es mir geht“, ist die neue Platte ein Versuch, mit dem Film zu korrespondieren.
Die Anfänge seines Verhältnisses zu „Stalker“ waren allerdings nicht sehr glücklich. Tatsächlich schlief Kohlschmidt die ersten der Male, als er sich den Film ansehen wollte, im Kino ein. Später dann lief „Stalker“ als Endlosschleife in seinem Videorecorder, weil er dort einen „unerschöpflichen Fundus an Erfahrungen“ vorfand.
In der „Zone“, in Stalker werden die tiefsten Sehnsüchte der Menschen Wirklichkeit. In seinen Texten für „Stachelhaut“ beläßt Kohlschmidt dieses Bild nicht in seiner tiefenpsychologischen Bedeutung, sondern überträgt es auf globale Zusammenhänge. „Mitten in Europa entstand eine Zone“ ist der erste Satz auf „Stachelhaut“, und im weiteren dräuen reichlich Nebel, schreit der Schaum oder wohnt im Blinddarm der Tod. Wie üblich sind die Texte in alle Richtungen lesbar.
Musikalisch scheißt man weiter tapfer auf Pop und alle Modernismen und versucht sich am Sinfonischen. Dazu wurde gar das Babelsberger Filmorchester engagiert. Nun türmen sich wieder mal Songungetüme so gewaltig und stetig wachsend vor einem auf, daß man sich demütig ducken möchte, wenn man an den Boxen vorbeigeht. Alles an dieser Musik ist groß und verwegen, aber halt auch größenwahnsinnig. Irgendwie wirken Sandow wie die unehelichen Enkel von Richard Wagner.
Wie auch schon früher dem Gesamtkunstwerk verpflichtet, bleibt „Stachelhaut“ nicht nur eine Platte, sondern mutiert auf der Bühne zu einer monsterartigen Veranstaltung mit dem Titel „Stalker Superstar“, bei der Sandow die Volksbühne mit scheinbar sämtlichem verfügbarem Personal bevölkern: Befreundete Bands wie Herbst in Peking und Columne One, das Theater Fleur de Mal, DJs, 20 Gäste und werweißnochalles werden in der gesamten Volksbühne vom Eingangsbereich über die Salons bis zur großen Bühne eine riesiges Spektakel inszenieren. Die „Zone“ liegt diesmal im Großen Saal. Das ist doch schon mal gut zu wissen. Vielleicht auch, daß sie nach Konzertende „von militärischen Einheiten geräumt“ wird. Thomas Winkler
13.2., 22.30 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz
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