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Village VoiceTrauerbauernarbeit

■ Sektiererisch, aber ohne Glaubensbekenntnis: Harry Rags „Trauerbauer“

Seltsame Wandlungen hat Harry Rag durchlaufen: vom Punk der ersten Stunde zum Wanderer zwischen den Welten. Nun macht er bleierne Dokumentarfilme über die zerfallende Sowjetunion und Schallplatten, die auch ziemlich zerfallen klingen. Nicht hip noch schräg oder wütend, sondern einfach traurig singt der Trauerbauer. Offenbar hat er nicht bloß eben mal kurz für eine Pinkelpause zwischen Punk und Elektro-Pop in den sechziger Jahren angehalten, sondern ist mit Leib und Seele in der Welt der Beatniks und Deadheads hängengeblieben. Vielleicht hat ihm auch nur irgendein böser Geist etwas ins Koll-Aid geschüttet, obwohl die Platte eher den Eindruck hinterläßt, als wäre Rag mit dem ganzen Körper in einen Kochtopf voll mächtig bewußtseinserweiterndem Zaubertrank gefallen.

Da haben sich in seinem Kopf eine Menge Hirngespinste eingenistet, die im Studio, meist spartanisch instrumentiert von trübe gezupften Gitarren, Klavieren oder Wald- und Wiesengeflöte begleitet, wieder aus der Beschwörung entlassen wurden: mehr David Peel's Lower East Side und weniger Fun vom alten Punk. Zwei Männer basteln am Küchentisch ihrer Altbauwohnung in einen Minikosmos eine Erstauflage von 566 Stück zusammen. Numeriert, in transparentem Vinyl. Das hört sich auf dem Papier allerdings um einiges psychedelischer an als auf Platte, auch wenn Rag es sich nicht nehmen ließ, über einem in fernen Hallräumen herumgeisternden Gitarrenakkord zu deklamieren, daß die Sonne breit ist.

Ab und zu hat sich der Ex-Solinger und Wahlberliner Harry Rag noch etwas rheinischen Aufruhr von 77 bewahrt. Dann singt er empört von den East Ridern, die in Birkenwäldern ihr ohnehin kapitalisiertes Ego ausleben, oder winkt keck mit seiner Scheckkarte zu ihnen hinüber. Ansonsten bleibt die Platte sektiererisch, doch ohne Glaubensbekenntnis. Verloren eben. Sätze in einem Text wie „Mein Geist“ verstehen sich fast schon (oder nur?) von selbst: „Flüge fliegen quer durchs Hirn, ich kann sie sehen, ich könnt's beschwörn, Flüge fliegen im Hirn. – Wie bekomme ich meinen Körper dorthin?“, und später heißt es, um einiges verhangener: „Permanent ist mein Geist woanders, ich kann ihn sehen – und nicht verstehen und kein Wort mit ihm reden.“ Wo sollen dann aber die ganzen empfindsamen Wörter hin?

Zum Bardentum des verqueren Schizo-Denkens paßt auch die Vertonung eines Yeats-Gedichts, der mit all seinen romantischen Verflechtungen vom Himmelswagen bis zum Höllenhund schon Rimbaud in Rage gebracht hatte, obwohl Rag im Grunde seines Herzens dem Dandy gegenüber den Trauerbauern bevorzugt – so es denn der Glaube an die Emanation und andere transzendental-pragmatische Grübeleien über Prager Huren und den Vater als übermächtige Rakete zulassen. In dieser Hinsicht ließe sich der klug in der Philosophie wildernde Ex-SYPH-Sänger auch mit L. Cohen vergleichen. Oder mit einem ödipierenden Sysiphus.

Doch es ist wie beim Schach, und das ist ein Trost: Selten schafft es ein Bauer zu anderen Seite, so daß eine Dame aus ihm werden kann. Mittendrin im Reich der traurigen Gedanken des Harry Rag hat man häufig das Gefühl, als wäre es ganz still geworden. Dann ist man allein. Das zehrt an den Nerven, weit melancholischer als es Neil-Young-Hörern vom Meister der Schwermut je zugemutet wurde. Irgendwo im Niemandsland spielen sich dann die wirklichen Dramen ab: Bei „Es gibt noch so viel zu tun“ murmelt der Gitarrist einmal „so'n Schrott“ – und will das ziellose Geklampfe abbrechen, doch Rag kontert: Spiel mal weiter, ist doch egal“, und gluckst kurz freundlich auf. So weit hat sich nur selten jemand aus dem Fenster gelehnt und dabei tief den Weltschmerz eingesogen. Ob Harry Rag noch Kumpel von früher hat oder nur die paar übriggebliebenen Freunde, die er auf dem Textblatt grüßt? Harald Fricke

Harry Rag: Trauerbauer, Hidden Records, Großgoerschenstraße 7

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