Vier Millionen Denim-Homos

Von erniedrigten Versagern zu überlegenen Verlierern: Turbonegro, das sind die norwegischen Anal-Punk-Könige, die den harten heterosexuellen Rock das Fürchten lehrten. Nach einem Psychotief von Sänger Hank stellen sie nun ihre neue Platte vor

von OLGA-LOUISE DOMMEL

„Die Krankenschwester krempelte meinen Ärmel hoch, und die Menschen verschwanden. Ich war winzig klein und saß in einem Schlüsselloch. Auf der einen Seite der Tür war es stockdunkel. Auf der anderen kullerte eine weiße Sonne über den Boden.“ So erwacht Kim Karlsen in einer Nervenheilanstalt bei Oslo in Lars S. Christensens Roman „Yesterday“. Ob sich Hank van Helvete, der Sänger der norwegischen Anal-Punk-Könige Turbonegro ähnlich fühlte, als er 1998 auf der „Darkness Forever“-Tour zusammenklappte, weiß man nicht, kann man sich so gut ausmalen. Die Folgen sind bekannt: Turbonegro trennten sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere im Warteraum einer Mailänder Psychiatrie-Notaufnahme. Die beste Band der anrollenden Skandinavien-Rock-Welle war weg vom Fenster.

Aber wie sollte es die Welt ohne Turbonegro aushalten, diese herrlichen Bauchbesitzer, die in den zehn Jahren ihres Bestehens in mädchenhaften Stimmlagen mit aller Wucht des Punkrock ihre Megamelodien sangen? Wie sollte es weitergehen ohne diese „Denim-Homos“, die sich in enge Jeansanzüge zwängten und es sich zum Auftrag machten, Machorocker und Schwulenhasser zu verspotten? Ohne Vorwärts-mit-Gebrüll-Sänger und Agitator Hank, der sich schwarze Sonnen um die Augen malte wie einst Alice Cooper und Lieder sang über Vorstadtverzweiflung, Außenseiter und vor allem homosexuellen Geschlechtsverkehr – vordergründig stumpf, aber mit viel Freude am Wortspiel? Ohne diese intelligenten Idioten, die übermütig und selbstironisch die hässlichen Schwuchteln spielten, die schwule Lederszene und deren Sadomaso-Nazi-Auswüchse durch den Kakao zogen und gleichzeitig ein Musikgenre demontierten, das sonst eher harten und heterosexuellen Jungs vorbehalten ist?

Vielleicht ist es ihrer skandinavischen Holzköpfigkeit zu verdanken, vielleicht aber auch ihrem nicht abbrechenden Ruhm – der hartnäckigen Turbojugend, ihrem Fanclub mit dem seltsamen Namen, einem Tributalbum und einigen erfolgreichen Festivalauftritten im letzten Jahr: Jedenfalls haben sich Turbonegro wiedervereinigt. „Scandinavian Leather“ heißt das Monumental-Punk-Bombast-Rock-Werk, das sie nach vierjähriger Pause nun in Berlin vorrocken werden. Musikalisch erstklassiges Handwerk zwischen Black Flag, Ramones, Van Halen und Todd Rundgren. Aber leider bringt wiederauferstandenes Gigantentum wohl zwangsläufig Schwulst mit sich, zum Beispiel Metal-Kitsch-Orgeln à la HIM.

Auch inhaltlich haben sich Turbonegro vom Image der erniedrigten Versager zu dem der überlegenen Verlierer gewandelt. Statt schwuler Scherze gibt es Psychohorror und ein bisschen Blut. Ihr Humor ist im Vergleich zu früheren Texten von eher lauer Originalität. Die Zeiten der zarten Andeutungen („you’ve got my penis steaming and your asshole’s screaming: help!“) sind leider vorbei. Heute heißt’s missverständlich: „we‘re on a mission to destroy“. Und selbst die Matrosenmützchen, Stahlhelmchen, Schäferhündchen und Lederhandschühchen der blauen Jungs wirkten auch mal origineller.

Tja, Turbonegro sind zurück, und sie sind im Geschäft: Unberechenbarkeit adé, hier sind Profis am Werk. Andererseits: Sind sie nicht immer noch Gold wert im Vergleich zu den anderen humorlosen Langweilern, die den guten, alten Hardrockgaul immer weiter über abgegraste Weiden treiben? Um es noch großmütterlicher auszudrücken: Haben Turbonegro nicht immer noch mehr Esprit, Witz und Pepp als die meisten anderen Doofrocktrottel, die zurzeit die Bühnen bevölkern? Es wird sich zeigen.

Am Sonntag, 20 Uhr, Columbiahalle, Columbiadamm13–21, Tempelhof