Vieles bekommt nun einen (schrecklichen) Sinn

Mit der Aufdeckung von „Gladio“-Strukturen in der Türkei kehrt die Erinnerung an politische Massaker zurück  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Es war, wie beim Reichstagsbrand“ sagt der ehemalige Oberstleutnant Talat Turhan. Gegen Turhan wurde in einem Prozeß 1973 die Todesstrafe gefordert — ein Komplott. Sabotage, Bombenattentate, das im Kulturpalast gelegte Feuer und weitere unzählige terroristische Aktionen wurden der Linken zur Last gelegt. Turhan, ein kritischer Offizier, der bei den Putschisten des Jahres 1971 in Ungnade gefallen und in einem bekannten Istanbuler Folterzentrum gefoltert wurde, ergriff die Gelegenheit, die ein Prozeß bietet um über die dunklen Machenschaften der Counter-Guerilla auszupacken. „Hätte es den Prozeß nicht gegeben, hätte ich die streng geheimen ,Field manuals‘ der US-Army, die die türkische Armee ohne Abstriche übernommen hat, nie veröffentlichen können.“ So wurden die field manuals der Counter-Guerilla, die Methoden der „unorthodoxen Kriegsführung“ zu Beweisstücken im Prozeß. Turhan zeigt den field manual 31, Abschnitte 15 und 16. Der Counter-Guerilla ist alles erlaubt: Morde, Menschenentführungen, Raubüberfälle und Sabotage. „Wie wollen sie die Existenz dieser Untergrundorganisation leugnen“, fragt Turhan. Der Oberstleutnant erwies vor Gericht seine Unschuld und wurde freigesprochen. Die wahren Täter — es liegt in der Natur der Dinge — wurden nie gefaßt.

Counter-Guerilla — die illegale Truppe des offiziellen „Amtes für besondere Kriegsführung“, der türkische Partner von „Gladio“ ist heute in aller Munde. Politiker, Generäle und ehemalige Mitarbeiter melden sich zu Wort. Eine erschreckende Indizienkette, spricht dafür, daß die antikommunistische, „unorthodoxe Kriegsführung“ in Friedenszeiten terroristische Aktivitäten organisierte: Counter-Guerilla — ein halbamtlicher Geheimbund, der Killerkommandos unterhält, über riesige Waffenarsenale verfügt und eigene Folterkammern unterhält. Selbst der Putschistengeneral des Jahres 1980 und ehemalige Staatspräsident Kenan Evren bestätigte in der Vergangenheit die dreckigen Geschäfte der Organisation. Heute rühmt er sich damit, den illegalen Aktivitäten ein Ende bereitet zu haben. Für den ehemaligen sozialdemokratischen Premier Ecevit gehen eine Reihe von Terrorakten Ende der siebziger Jahre auf das Konto der Organisation. Ein Ex-Offizier, der als Übersetzer in dem „Amt für besondere Kriegsführung“ tätig war, berichtet über Treffen mit Partnerorganisationen anderer Nato-Länder.

Völlig unerwartet traf am 9. November CIA-Chef William Webster zu Gesprächen mit der türkischen Führung in Ankara ein. Fünf Tage danach trafen sich — völlig außer Programm — der Putschist Evren und der heutige Generalstabschef Necdet Torumtay. Türkische Kommentatoren mutmaßen, daß „Gladio“ zentrales Thema der Gespräche war. Kurz darauf dementierte der türkische Generalstab die Verwicklung des „Amtes für besondere Kriegsführung“ in terroristische Aktivitäten.

Die Parallelen zu Italien liegen auf der Hand. Auch das türkische „Amt für besondere Kriegsführung“ spricht von „freiwilligen Patrioten“, die angeheuert wurden. In der Türkei bestanden die „patriotischen Freiwilligen“ aus Militanten der „Nationalistischen Aktionspartei“ der „Grauen Wölfe“ unter dem Ex- Oberst Alpaslan Türkes, die Ende der siebziger Jahre Mord und Terror verbreiteten. Organisationsschemata der Counter-Guerilla fanden sich nach 1980 bei einer Hausdurchsuchung der Parteizentrale.

Die Nachkriegsgeschichte in der Türkei muß umgeschrieben werden. Eine Phase des Terrors, Attentate und inszenierte Massaker gehen jedem Militärputsch in der Türkei voraus. Sonderbare Umstände verhindern stets, daß die Täter gefaßt werden. Selbst die 20 Scharfschützen, die am 1. Mai 1977 ein Blutbad unter den Demonstranten anrichteten und per Zufall von einfachen Soldaten gefaßt wurden, kamen kurz nach ihrer Internierung frei. Oberst Orhan Kilercioglu vom „Amt für besondere Kriegsführung“ koordinierte nämlich das Massaker, schreibt die Zeitschrift 'Yüzyil‘, die mit zahlreichen Dokumenten aufwarten kann.

Doch Counter-Guerilla ist in der Türkei nicht nur Vergangenheitsbewältigung. Irreguläre Kräfte des „Amtes für besondere Kriegsführung“, die nicht in die Armeehierarchie eingebettet sind, operieren heute im Südosten der Türkei gegen die kurdische Guerilla. Dutzende Morde, die als Guerilleros verkleidete Männer verübten, soll auf ihr Konto gehen.

Seit über 20 Jahren fordert Talat Turhan die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur CounterGuerilla. Selbst offizielle Armeedokumente, die Terroraktionen gutheißen, hatten kein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren zur Folge. Nach dem Skandal um „Gladio“ und Counter-Guerilla fordern auch die Oppositionsparteien eine parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Doch die Karten stehen schlecht. Die Mitarbeit im „Amt für besondere Kriegsführung“ war schon immer eine Karriereleiter. General Kemal Yamak, von 1971 bis 1974 Chef des Amtes, ist heute Berater des Staatspräsidenten Turgut Özal.