■ Krankheit als Ausdruck der Machtlosigkeit: Viele begehbare Brücken bauen
Migration kann bereichernd sein, wenn die Voraussetzungen zur Gründung einer neuen Heimat gegeben sind. Fehlen diese, dann wird der Aufenthalt in der Fremde zu einer psychischen Belastung, die sich über kurz oder lang auch körperlich bemerkbar macht. Diese Problematik wurde im Einwanderungsland Deutschland lange Zeit hindurch ignoriert. Migranten betrachtete man als Gäste, die irgendwann das Land verlassen würden. Doch inzwischen, nach nahezu vierzigjähriger Erfahrung, lassen sich die Probleme nicht mehr unter den Teppich kehren. Das bestätigt auch eine Anhörung im Januar dieses Jahres in Frankfurt, zu der der Arbeitskreis „Sozialberatung für Migranten“, das „Amt für Multikulturelle Angelegenheiten“ und die Dezernate für Soziales, Gesundheit und Frauen eingeladen hatten.
Neu war bei dieser Anhörung die Teilnahme einer größeren Zahl von MigrantInnen, die endlich eine Umkehrung der bisherigen Perspektive in die Debatte einbrachten. Sie reklamierten – auch unter FachkollegInnen im Beratungsbereich – Reziprozität und Partnerschaftlichkeit im Umgang miteinander. Das ist ein richtiger Ansatz, nur so kann eine fruchtbare Debatte über Folgen der Migration stattfinden. Bei dieser Debatte geht es nicht nur um die psychischen, sozialen und gesundheitlichen Probleme von MigrantInnen, die sich äußern in Verhaltensauffälligkeiten, Destabilisierung von Familienbeziehungen, Verwischung der Grenzen zwischen den Generationen, Orientierungslosigkeit und sehr häufig psychosomatischen Krankheiten. Es geht auch um deren Entstehungsfaktoren.
Bei MigrantInnen spielen Trennungserlebnisse, Entwurzelungsprozesse und eine Kulminierung von Belastungs- und Streßfaktoren eine wichtige Rolle. Sie sind bedingt durch den Prozeß der Migration und die benachteiligenden Lebensbedingungen, die sie in der Bundesrepublik erfahren. Menschliches Verhalten ist in seiner Komplexität eben nur verständlich, wenn man es im Kontext familiärer, beruflicher, gesellschaftlicher Zusammenhänge betrachtet. Zu den benachteiligenden Lebensbedingungen gehören bei den meisten MigrantInnen materielle Unterversorgung, schlechte Wohnqualität und Arbeitsbedingungen, Erfahrungen von menschlicher Isolation, Diskriminierung, eine „Ausländergesetzgebung“ und ein gesellschaftliches Klima, die „Nichtdeutsche“ in eine existentiell unsichere Lage versetzen. Krankheit wird so zur letzten Ausdrucksmöglichkeit der Machtlosen, im Sinne G. Jervis. Hinzu kommt für die meisten MigrantInnen das Problem der Nichtkompatibilität beziehungsweise Entscheidungsunfähigkeit zwischen Herkunfts- und Einwanderungsorientierung, ein Problem, das die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft existierende „Spaltung“ („Entweder-Oder“-Muster) reproduziert. Hier wird oft Andersartigkeit polarisiert wahrgenommen und somit entweder geleugnet oder verabsolutiert. Paradoxerweise erfahren MigrantInnen ihre gesellschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung in dem Land, in dem sie in der Tat ihren Lebensmittelpunkt haben.
Die psychosoziale Versorgung von MigrantInnen in Deutschland bietet ein desolates Bild. Sie ist weit gestreut, unzureichend, kaum von Koordination und Vernetzung geprägt, personell unterbesetzt und finanziell nicht abgesichert. Dies führt in den meisten Fällen zu einer rigiden und kaum adäquaten Versorgung.
Die öffentlich geförderten Dienste der psychosozialen und medizinischen Versorgung der Migranten haben sich als völlig unzureichend erwiesen. Sie haben bisher kaum etwas unternommen, um kulturelle und sonstige Zugangsbarrieren abzubauen. Das oft gebrachte Argument, daß hier alle – unabhängig von ihrer Herkunft – gleich behandelt werden, klingt edel, aber hohl. Unter Ungleichen in gleicher Weise zu teilen, bedeutet in der Tat die Ungleichheiten zu belassen und zu verstärken. Wer würde es für gerecht und sinnvoll halten, wenn man dem Satten und dem Hungrigen je ein Hähnchen zum Essen geben würde! Die Mehrzahl der Dienste und Einrichtungen steht den MigrantInnen gegenüber nur theoretisch offen. In der Praxis ist ihnen der Zugang verwehrt durch mangelnde beziehungsweise gar nicht vorhandene Sprachkenntnisse. Auch das Fehlen von Grundwissen der BeraterInnen über Tradition, Kultur und Lebensweise der ausländischen Klientel im Herkunftsland errichtet oft kaum überwindbare Mauern.
Notwendig ist der Zuwachs interkultureller Kompetenz, der durch Aufnahme ausländischer Fachkräfte in die deutschen Regeldienste erreicht werden könnte, Veränderung von Rahmenbedingungen in der psychosozialen und medizinischen Versorgung zum Abbau von Zugangsbarrieren für MigrantInnen, Anerkennung und Institutionalisierung der Vernetzungsarbeit als offizielle Arbeit der Regeldienste, personelle und finanzielle Ausstattung für Realisierung präventiver Arbeit, Aufbau und Nutzung eines professionellen Dolmetscherdienstes, Integration verschiedener Angebote statt problemorientierte Spezialisierung auf immer engerem Gebiet und vieles andere mehr. Interkulturelle Öffnung der Versorgungsstruktur bedeutet aber auch eine besondere Sensibilität, Einfühlungsvermögen und eine respektvolle Haltung gegenüber Andersartigkeit. Sie setzt ein Bewußtsein über die eigene kulturelle Prägung voraus und ein konsequentes Relativieren des eigenen Denkens und Handelns. Einseitige, wenn auch wohlgemeinte Versuche, „das Fremde“ zu verstehen und dabei sich selbst außer acht zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt. Die kulturelle Öffnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft braucht weder Mikroskope noch Ferngläser, sie braucht unendlich viele begehbare Brücken. Valentino Veneto Scheib
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen