Viele Tote auf Spielplatz in der Ukraine: Kinder sind für Russland „militärische Ziele“
Die Ukraine trauert um die Opfer eines russischen Raketenangriffs in der Stadt Krywyj Rih. Getroffen wurde ein Kinderspielplatz in einem Wohnviertel.

Um 17.46 Uhr wird in der Stadt Luftalarm ausgelöst. Um 17.49 Uhr ist eine heftige Explosion zu hören.
Nach späteren Angaben des ukrainischen Militärs ist von der russischen Stadt Taganrog aus eine ballistische Rakete vom Typ Iskander-M mit einem Mehrfachsprengkopf abgefeuert worden. Die Rakete schlägt in einer Straße in einem Wohnviertel von Krywyj Rih ein, das dicht mit Wohnhäusern, Geschäften, Spielplätzen und einem Restaurant bebaut ist.
„Ich hörte eine Sirene, dann das Dröhnen des Raketenmotors und Sekunden später eine Explosion. Alles ging so schnell, dass ich nicht einmal Zeit hatte, mich vom Fenster in der Küche im Flur zur Tür zu bewegen“, sagt Nina, eine Rentnerin, die in einem der Dutzenden von Häusern wohnt, die bei dem Raketenangriff beschädigt wurden.
Neun tote Kinder, viele Verletzte
Das Epizentrum des Einschlags liegt nur wenige Dutzend Meter von einem Spielplatz entfernt, auf dem sich zu diesem Zeitpunkt viele Kinder und ihre Eltern aufhielten. Stand Sonntag ist bekannt, dass bei dem Raketenangriff 18 Menschen getötet wurden, darunter neun Kinder: der 17-jährige Nikita, der 16-jährige Kostjantyn, die 15-jährige Alina, der 15-jährige Mykyta, der 15-jährige Danylo, der 9-jährige Herman, die 7-jährigen Radyslaw und Arina und der 3-jährige Tymofyj. Mehr als 70 weitere Menschen wurden verletzt, die Hälfte von ihnen sind in Krankenhäusern, einige in ernstem Zustand, darunter 12 Kinder.
Die russischen Propagandasender beginnen sofort zu leugnen, dass sie Zivilisten angegriffen hätten. Das Verteidigungsministerium versucht wieder einmal, seinen Angriff auf zivile Objekte als Angriff auf militärische Ziele zu rechtfertigen, indem es Falschinformationen verbreitet: „Um 18.49 Uhr (Moskauer Zeit) wurde eine hochpräzise Rakete mit hochexplosiver Ausrüstung auf den Ort eines Treffens von Truppenkommandeuren und westlichen Instrukteuren in einem Restaurant in der Stadt Krywyj Rih abgefeuert. Infolge des Angriffs gab es bis zu 85 Soldaten und ausländische Offiziere unter den Opfern.“
Wenige Stunden nach dem Raketenangriff, während der Rettung der Opfer des ersten, greift Russland zum zweiten Mal mit Drohnen an. Bei diesem Angriff werden eine weitere Person getötet und mehrere verletzt.
Krywyj Rih, Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, ist die zweitgrößte Industriestadt der Ukraine mit 650.000 Einwohnern, darunter viele Binnenflüchtlinge aus dem Donbas. Die Industriemetropole gut 130 Kilometer südwestlich von Dnipro wird regelmäßig von Russland mit Raketen und Drohnen angegriffen. Ziel dieser Angriffe ist vor allem die zivile Infrastruktur – so wurden beispielsweise alle Hotels der Stadt zerstört.
„Angst, das Wort ‚russisch‘ auszusprechen“
Die meisten internationalen Institutionen und westlichen Botschaften in der Ukraine haben den russischen Angriff auf den Spielplatz in Krywyj Rih verurteilt. Die Reaktion der US-Botschafterin Bridget Brink stieß jedoch sowohl in der ukrainischen Gesellschaft als auch bei Wolodymyr Selenskyj auf heftige Kritik. „Es ist erschreckend, dass heute Abend eine ballistische Rakete in der Nähe eines Spielplatzes und eines Restaurants in Krywyj Rih eingeschlagen ist. Deshalb muss dieser Krieg beendet werden“, schrieb sie, ohne zu erwähnen, dass es sich um eine russische Rakete handelte.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Zum ersten Mal seit dem Streit im Oval Office äußert sich der ukrainische Präsident harsch über die Vereinigten Staaten. „Leider ist die Reaktion der amerikanischen Botschaft unangenehm überraschend: ein so starkes Land, ein so starkes Volk – und eine so schwache Reaktion. Sie haben sogar Angst, das Wort ‚russisch‘ auszusprechen, wenn es um die Rakete geht, die die Kinder getötet hat“, schreibt Selenskyj.
Allein in der vergangenen Woche sind bei russischen Angriffen 11 ukrainische Kinder ums Leben gekommen. Insgesamt haben die Russen seit Beginn der groß angelegten Invasion nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft 616 Kinder durch Beschuss getötet und fast 1.900 verletzt, weitere 2.000 Kinder werden vermisst und 19.500 wurden nach Russland verschleppt.
Die russischen Luft- und Raketenangriffe dauern an. So wurde ein Heizkraftwerk in Cherson angegriffen, eine Fliegerbombe traf ein mehrstöckiges Wohnhaus in Kupjansk und ein ziviles Unternehmen in Mykolajiw. In der Nacht auf Sonntag griffen russische Streitkräfte die Ukraine mit 17 Marschflugkörpern aus strategischen Flugzeugen, sechs ballistischen Raketen und 109 Drohnen an. Die größte Angriffswelle seit Langem verursachte Zerstörungen und Brände in mehreren Vierteln Kyjiws und tötete einen Mann, der sich gerade auf der Straße befand.
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