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MIT OST-WEST-GLEICHHEIT AUF DU UND DUViele Illusionen

■ DIW: Rasche Lohnerhöhung bringt mehr Entlassungen

Berlin (dpa/taz) — Die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland werden sich in den nächsten fünf Jahren nicht wirklich angleichen. Gerade wenn die Ostlöhne schnell auf Westniveau angehoben werden, verbessert das die Lebensbedingungen nicht: Wegen der geringen Produktivität der Betriebe in den neuen Bundesländern würden Lohnsteigerungen zwangsläufig zu noch mehr Entlassungen führen. Diese Einschätzung vertritt das Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seiner gestern veröffentlichten Untersuchung über den Arbeitsmarkt in Deutschland. Die Forscher argumentieren, daß es bei Lohnzuwächsen nicht zu Kapitalbildung und damit zu einem sich selbst tragenden Aufschwung kommen könne.

Unter der Annahme, daß sich die westdeutschen Löhne mit einer jährlichen Zuwachsrate wie im Durchschnitt der letzten 20 Jahre erhöhten, seien im Durchschnitt der ostdeutschen Wirtschaft „jedes Jahr Lohnzuwächse von gut 20 Prozent notwendig“. In der Mineralölindustrie und der chemischen Industrie wären es sogar über 30 Prozent. Solche Zuwächse könnten die Firmen nicht verkraften, ohne weitere Beschäftigte zu entlassen.

In einer Situation, in der fast alle Betriebe im Treuhandbereich Verluste machten, ließen sich neue Arbeitsplätze nur durch starken Kapitalimport schaffen. Es sei aber zu befürchten, daß „selbst das beträchtliche Engagement westlicher Investoren nicht ausreicht, um mittelfristig einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen“. Deshalb habe die in vielen Tarifbereichen bis Mitte der 90er Jahre vereinbarte weitgehende Angleichung an den Westen erhebliche negative Auswirkungen auf die Beschäftigung.

Das Argument, nur gleiche Löhne in Ost und West könnten eine Abwanderung der Ex-DDRler in die alten Bundesländer verhindern, lassen die DIW-Forscher nicht gelten. Nach einer Umfrage unter erwerbsfähigen Männern unter 50 Jahren (der Bevölkerungsgruppe mit der größten Wanderfreude) ist ein höheres Einkommen nicht der wichtigste Grund für einen Umzug nach Westen. Die Angst vor der eigenen Arbeitslosigkeit sei ein deutlich stärkeres Motiv für die Westwanderung. Wer glaube, in nächster Zeit arbeitslos zu werden, zeige überdurchschnittlich hohe Umzugsbereitschaft. Die schnelle Angleichung der Löhne mit in der Folge beschleunigtem Arbeitsplatzabbau würde also im Gegenteil die Flucht in die alten Bundesländer beschleunigen.

Gering seien die Abwanderungsabsichten auch, wenn beide Ehepartner arbeiteten und in Westdeutschland zwei Arbeitsplätze finden müßten, oder jemand im eigenen Haus wohne. Ein starker Grund für den Umzug ist allerdings auch der Zustand der Umwelt. Im dichter besiedelten Süden der ehemaligen DDR äußerten sich 30 Prozent der befragten Männer unzufrieden über die Umwelt an ihrem Wohnort. Für die meisten sei das ein stärkeres Motiv, wegzuziehen, als ein eventuell höheres Einkommen im Westen, zumal die Umweltbelastung nicht kurzfristig zu beseitigen sei. dri

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