: Verzicht aufs Verstehenwollen
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat eine „Theorie der Unbildung verfasst“. Darin beklagt er, dass heute an den Universitäten Wissen stets nützlich und verwertbar sein muss
Seit kurzer Zeit leben wir in der Wissensgesellschaft, die sich durch „Wissensmanagement“ und „wissensbasierte“ Tätigkeiten auszeichnet. Was ist denn aus der Dienstleistungsgesellschaft geworden?, höhnt Konrad Paul Liessmann in seiner „Theorie der Unbildung“. Der Wiener Philosoph hält das aktuelle Label für Blendwerk: Die Wissensgesellschaft sei eine „Desinformationsgesellschaft“ und wir auf dem Weg in die „Kontrollgesellschaft“.
Liessmann wehrt sich gegen die Industrialisierung und Ökonomisierung von Schule und Universität. Er will den Eigensinn der nicht anwendungsorientierten, geisteswissenschaftlichen Fächer bewahren. Die Veränderungen im Gefolge von Pisa und europäischer Hochschulreform „demolierten“ nur. Auf die Reform folge bald die Reform der Reform, was enorme Kräfte binde. Aufgegeben werde Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff, von dessen „Theorie der Bildung des Menschen“ sich Liessmann bis in den Titel seines Buches hinein hat inspirieren lassen. „Wissen“, fasst er Humboldt griffig zusammen, „existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann. Wissen referiert auf Erkenntnis, die Frage nach der Wahrheit ist die Grundvoraussetzung für das Wissen.“
Doch heute muss Wissen nützlich und verwertbar sein, weshalb es allerorten fragmentiert und quantifiziert wird: Universitäten streben nach Wissenszuwächsen von 13,5 Prozent. In Theodor W. Adornos „Theorie der Halbbildung“ sei, so Liessmann, die Bildung noch präsent, wenn auch nur als Leerstelle. Sie fehle in der Gegenwart völlig, es herrsche Unbildung, nämlich der Verzicht aufs Verstehenwollen.
Die Unterwerfung der letzten „gesellschaftlichen Refugien“ durch die Ökonomie belegt Liessmann mit vielen sprechenden Beispielen. Die europäische Hochschulreform etwa erreiche mit der Vereinheitlichung und Normierung von Studiengängen das vorgebliche Ziel größerer Mobilität der Studenten schon deswegen nicht, weil die verkürzten Bachelor-Studiengänge zum Schnelldurchlauf zwängen.
Sie böten Ausbildung, nicht Bildung, sie bedrohten die Einheit von Lehre und Forschung und ließen eine Zweiklassenuniversität entstehen. Denn jeder Professor werde nicht die Masse, sondern die wenigen intellektuell herausfordernden Doktoranden unterrichten wollen. Zugleich drohten sich an den entstehenden Elite- oder Excellence-Universitäten exklusive und die Öffentlichkeit der Wissenschaft untergrabende Gemeinschaften zu etablieren.
Das Prinzip sei immer das gleiche: Öffentliche Institutionen würden zerschlagen, und das entstehende Chaos bewältigten private Sicherheitsgesellschaften, Evaluierer, Unternehmensberater. „Die Reformideologie […] stellt Leo Trotzkis Phantasma der permanenten Revolution als neoliberale Karikatur dar.“
Solch harsche Kritik am herrschenden Neoliberalismus steht neben feinsinnigen Beschwörungen des Humboldt’schen Bildungsbegriffs, denn Liessmann hat sich leider nicht entscheiden können, ob er eine Streitschrift oder einen Essay schreiben wollte. Zudem enthält schon das Vorwort fast die ganze Argumentation, weshalb sich danach der Eindruck der Wiederholung einstellt.
Dem Buch fehlt leider eine Dramaturgie der Steigerung, es schlingert. Voller Unbehagen an und in der Wissensgesellschaft schreibt Liessmann mal scharf, mal sarkastisch. Mal eifert er mit schönen Paradoxa Adorno nach, mal droht er sich in Belegen zu verlieren.
Zweifel weckt Liessmanns Hinweis auf den Philosophen Immanuel Kant, der nach seiner späten Berufung zehn Jahre lang nichts publiziert habe und sich nach heutigen Maßstäben wegen mangelnden Fleißes vor der Evaluierungskommission zu verantworten gehabt hätte; dabei sei in dieser Zeit doch die „Kritik der reinen Vernunft“ in seinem Kopf entstanden!
Da fallen einem gleich zahlreiche Universitätslehrer ein, deren Zurückhaltung glücklicherweise noch Großartiges erwarten lässt. Und so richtig Liessmanns Aversionen gegen die rigorosen Eingriffe im Besonderen und den Neoliberalismus im Allgemeinen erscheinen – man muss deshalb nicht unbedingt in der Selbstorganisation der Wissenschaft die einzig mögliche Alternative sehen. Die Forderung nach Autonomie zu Humboldts Zeiten hatte handfeste Gründe: die Zensur. Bei Liessmann klingt sie wie die inständige Bitte um Ruhe. JÖRG PLATH
Konrad Paul Liessmann: „Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006, 176 Seiten, 17,90 Euro