Versuch eines Kurras-Lebensprotokolls: Ein unfassbarer Lebenslauf
Die Waffe in der Hand ist das Leitmotiv seiner Existenz - alles andere gerät schnell ins Schlingern. Ein Versuch, die Ironien im Leben des Karl-Heinz Kurras hervortreten zu lassen.
Der Fernsehmann und Schriftsteller Alexander Kluge hat in seinen "Lebensläufen", die im Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer erstmals erschienen, Geschichte in Protokollen von "Einzelleben" dargestellt. Die Form der protokollarischen Erzählung ist bewusst gewählt: Auf die ausdeutende Vermittlung von Individuum und Geschichte verzichtet Kluge sehr bewusst. Das folgende Protokoll des Lebens des Karl-Heinz Kurras versucht, in Anlehnung an Kluges Methode dem Lebenslauf, um dessen Deutung sich Linke und Rechte gerade raufen, seine Unfassbarkeit zu bewahren. Nicht in der Absicht, den Streit zu vermeiden, sondern im Glauben, dass die vorläufige Einklammerung des eindeutigen Urteils die Ironien dieses Lebenslaufs umso deutlicher hervortreten lässt.
Ein tödlicher Schuss K.s wurde einer ganzen Nation erst zum Fanal, dann zum Rätsel. Nach mehr als 40 Jahren kehrt der Polizist, der im Juni des Jahres 1967 in Berlin den Studenten O. erschoss, auf die Titelseiten der Zeitungen zurück. Stolz sieht er aus auf dem alten Foto als korrekt gekleideter Schütze. Unterm Pullover die Krawatte, in der Hose die Bügelfalte, durchgestreckt der rechte Arm, in der Hand liegt die Waffe. Abstand zum Ziel: 25 Meter. Nach allem, was wir wissen, ist K. einer, den man sich am glücklichsten am Schießstand vorstellen muss. Sicher ist: Die Waffe in der Hand ist das Leitmotiv seiner Existenz.
Geboren wurde er am 1. Dezember des Jahres 1927 im damals ostpreußischen Barten, das heute weit im polnischen Osten liegt, nahe der litauischen Grenze. Er ist neun, da drückt ihm sein Vater, ein Dorfpolizist, als Geburtstagsgeschenk seine erste Waffe in die Hand. K. übt sich früh und er wird im Schießen ein Meister. Der Vater stirbt als Wehrmachtsoldat, der Sohn macht Notabitur und geht 1944 noch in den Krieg. Der sowjetische Geheimdienst verhaftet ihn in Berlin, es ist das Jahr 1946, wegen illegalen Waffenbesitzes und wirft ihm vor, er habe geplant, was er, wie wir wissen, mit seinem Schuss Jahrzehnte später erreichte: nämlich "die Macht der Regierung und das Funktionieren des Staatsapparats zu erschüttern". Das ist in den Akten überliefert; was K. sich bei alledem denkt, wissen wir nicht.
Für 25 Jahre soll er in Haft, das Entlassungsdatum wäre mithin das Jahr 1971. So aber kommt es nicht. Der Knast, in den man ihn wirft, befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Das wird von den Sowjets als Speziallager weiter genutzt, auch die Vernichtungsanlage und das Krematorium stehen noch. Von den 60.000 hier - anders als K. - ohne Rechtsgrundlage Inhaftierten sterben an Erschöpfung, Krankheit und Hunger 12.000 bis zum Schließungsjahr 1950. Wohin das Fenster des Gefangenen K. geht, worauf er blickt: Wir wissen es nicht. Im Prozess nach dem Todesschuss des Kriminalobermeisters K. auf den Studenten O. wird er dreist behaupten: "Ich war im KZ." Vorzeitig, im Jahr 1950, kommt er frei, er geht nach Westberlin und wird, den Beruf des Vaters ergreifend, ein bald für seine Korrektheit und seine Schießkünste gelobter Polizist.
Das war allgemein bekannt, aber die folgenden Fakten waren es bis zum 22. Mai des Jahres 2009 durchaus nicht: Am 19. April des Jahres 1955 stellt K. einen Antrag auf Staatsbürgerschaft der DDR und Aufnahme in den Polizeidienst Berlin-Ost. Im Osten hat man eine andere Verwendung für einen wie ihn. Nach einer, wie in den Akten zu lesen ist, "gründlichen Aussprache" lässt K. von seinem Vorhaben ab. Er bleibt West-Polizist, seit dem 26. April desselben Jahres als Stasi-Spion und für seine Korrektheit und seine Auskunftsfreude gelobter IM "Otto Bohl". Per Funk nimmt er jeden Sonntag um vier, später jeden Samstag um zwölf seine Aufträge entgegen.
Zum Leben als Spion gehört die vom MfS gestellt Minox-Miniaturkamera. Er trifft sich mit seinem Verbindungsagenten, dem inzwischen verstorbenen Führungsoffizier E., mehrmals im Jahr in Ostberlin, aber auch mit der Agentin "Trude" im Schleusenkrug am Landwehrkanal, der, wie alle Berliner Wasserstraßen, der Verwaltung des Wasserstraßenhauptamts in Ostberlin untersteht. 17 Leitz-Ordner mit Berichten des K. sind erhalten. Nach dem Zufallsfund des Frühjahrs 2009 sind diese Akten nunmehr überliefert; wie aber K. zu dem kam, was er tat, wissen wir nicht.
Er bewirbt sich bereits am 15. Dezember 1962 "in ehrlicher Überzeugung", wie er versichert, um die Aufnahme in die SED, erst am 16. Januar des Jahres 1964 aber ist es so weit: K. wird Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aufgenommen in die Grundorganisation BPO 7. Besiegelt durch Unterschrift im Parteibuch vom ersten oder zweiten Sekretär, ohne Vornamen: Schmidt. Auf dem eingestanzten Foto blickt K. nach rechts oben - Brüder, zur Sonne, zum Schießstand -, ein Lächeln um seinen Mund, er hat die Mitgliedsnummer 2.002.373. Nach Ostberlin meldet er zunächst, was ihm bei internen Ermittlungen an Erkenntnissen in die Hände fällt, später ist er bei der Politischen Polizei und liefert Berichte über enttarnte Mitarbeiter des MfS. Er ist, nehmen wir an, das einzige SED-Mitglied am Schießstand des Polizeisportvereins Wannsee, wo man ihn, glücklich zielend und öfter als andere treffend, in den 60er-Jahren häufig sieht. Die Pistole der Marke "Walter" hatte ihm, in Anerkennung seiner nachrichtendienstlichen Leistung, die Stasi geschenkt. Was ihm an den Ironien seiner Situation bewusst ist: Wir wissen es nicht.
Ein Schuss, der, so K., aus Notwehr abgeht und nur, dies jedoch sehr gezielt im Genick, versehentlich trifft, macht ihn zur Hassfigur und zum Helden. Am 2. Juni 1967 erschießt K. bei der Demonstration gegen den Schah in Berlin den Studenten O. Er hat, sagen die, die dabei waren, eine Bedrohungssituation halluziniert. Hinterher lässt er seine Kleider gleich reinigen, schafft das Magazin seiner Dienstwaffe beiseite. Damit hat er die letzten Befehle des MfS, das von der Tat überrascht scheint, befolgt: "Material sofort vernichten. Vorerst Arbeit einstellen." 50.000 Mark Prozesskosten zahlt die Gewerkschaft, K. wird freigesprochen, wieder und wieder, zur Freude der Springer-Presse und der Kollegen. Er lässt sich nicht lumpen und meint noch vor kurzem: "Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen fliegen."
Der Todesschuss und die Urteile der Gerichte passen für die revoltierende Linke ins Bild. Dass K. selbst nicht hineinpasst in das Bild, weiß zu dem Zeitpunkt außer ihm und dem MfS keiner. Drei Jahre bleibt K. suspendiert, 1970 ist er wieder im Dienst. Die Arbeit fürs MfS nimmt er nicht wieder auf. Seinem Sohn schenkt er zu dessen zehntem Geburtstag die erste Waffe. Von Problemen mit dem Alkohol ist im Rückblick die Rede. Davon auch, dass er Staub in der Wohnung und Küsse auf den Mund als unhygienisch verabscheut. Weiterhin aber trifft man K. oft am Schießstand. 1987 wird er pensioniert, im Haus in Spandau geht er in den Keller zum Trinken. Dann im Archiv der Zufallsfund. Die Presse jagt ihn, er grinst, widerspricht sich, gesteht der Bild am Sonntag seine Stasi-Tätigkeit, schwingt sich aufs Rad und trinkt ein Bier. Wie vollständig das Bild ist, das wir nun haben, und auch, wie K. selbst sieht, was er tat, das wissen wir nicht.
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