: „Verstoß gegen Chancengleichheit“
■ Sozialdemokratische Juristen gegen den vereinbarten Wahlrechtsmodus und vorverlegten Wahltermin
DOKUMENTATION
Die am Wochenende erreichbaren Mitglieder des Bundesvorstandes der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (ASJ) teilen die Kritik des niedersächsischen Ministerpräsidenten, Mitglied des SPD -Präsidiums und Vorsitzender der Kommission für Innen- und Rechtspolitik beim SPD-Parteivorstand (IRPK), Gerhard Schröder, und anderer führender Sozialdemokraten an dem sogenannten Wahlrechtskompromiß für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Es ist ein Verstoß gegen die Chancengleichheit der Parteien und gegen die Wahlrechtsgleichheit, kleine Parteien und damit auch ihre Wähler praktisch von jedem eigenständigen Wahlerfolg auszuschließen. Wenn man schon eine bundesweite Fünf-Prozent -Sperrklausel vorschreibt und damit die bundesweit für die Teilnahme an der Mandatsverteilung erforderliche Stimmenzahl auf 2,5 Millionen erhöht und zum Ausgleich dafür Listenverbindungen zuläßt, so müssen solche Listenverbindungen auch und gerade zugunsten kleinerer Parteien mit regionalem Schwerpunkt in der DDR praktisch wirksam werden können. Eine solche Wirkung, insbesondere zugunsten derjenigen DDR-Parteien, die sich als Träger der friedlichen Herbstrevolution 1989 verdient gemacht haben, wird zwar von den Propagandisten jenes sogenannten Kompromisses behauptet, ja sogar als dessen eigentliches Zeil hingestellt. Solche Behauptungen sind jedoch falsch, weil die Listenverbindungen nur zwischen Parteien zulässig sein sollen, die nicht gegeneinander konkurrieren und aufgrund dieser Einschränkung für die angeblich begünstigten kleinen DDR-Parteien Listenverbindungspartner mit Aussicht auf Überwindung der bundesweiten Fünfprozentklausel nicht zur Verfügung stehen. Die für sie bleibende Möglichkeit, unter Verzicht auf eine eigene Liste auf die Liste einer anderen Partei zu kandidieren, ist keine Listenverbindung mehr; an die Stelle der Wahrung einer gewissen Eigenständigkeit, insbesondere aufgrund der Stimmabgabe für die trotz Listenverbindung eigenständig bleibende Liste der verbundenen kleinen Partei tritt die Unterwerfung unter eine andere Partei.
Zugleich machen die SPD-Juristen darauf aufmerksam, daß jener sogenannte Wahlrechtskompromiß von Bundeskanzler Kohl als wesentlicher Grund für seinen Vorschlag bewertet worden ist, die Wahl vom 2.12. auf den 14.10. vorzuverlegen, woran mehrere SPD-Spitzenpolitiker mit Recht scharfe Kritik geübt haben. Diese Vorverlegung beraubt überdies jene kleinen Parteien, denen ein durchorganisierter Parteiaufbau und erfahrene Parteifunktionäre fehlen, selbst für den Fall des Verzichts auf jene Einschränkungsklausel wesentlicher Voraussetzungen für eine Erfolgschance. Die als einer der angeblich begehbaren verfassungsrechtlichen Wege zur Rechtmäßigkeit einer solchen Vorverlegung ins Gespräch gebrachte Verneinung einer Vertrauensfrage des BK gemäß Artikel 68 GG durch die ihn unverändert und mit ständigem allgemeinen Lob tragende Bundestagsmehrheit ist ein eindeutiger Verfassungsbruch, weil ihre vom Bundesverfassungsgericht festgesetzten Voraussetzungen nicht vorliegen: Weder ist die Koalitionsmehrheit instabil noch wollen alle Kräfte des Bundestages dessen vorzeitige Auflösung, und umgekehrt liegt die wahltaktische Motivation von Vertrauensfrage und Mißtrauensvotum einer ständig ihr großes Vertrauen zum Bundeskanzler bekundenden Mehrheit auf der Hand.
Die SPD-Juristen fordern die SPD-Fraktionen des Bundestages und der Volkskammer und die SPD-Mitglieder des Bundesrates dazu auf, der Einschränkung der Listenverbindungen auf nicht gegeneinander konkurrierende Parteien und einer Vorverlegung der Bundestagswahl nicht zuzustimmen.
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