Verschwörungstheroretiker und andere Fantasten : Irre
Ist eine Wahnwelt erstmal betreten und fühlt sich gut an, hat die Wirklichkeit keine Chance mehr. Aber warum tun gerade noch „normal“ gewesene Leute das? Sozialpsychologe Harald Welzer weiß nicht mehr weiter.
Von HARALD WELZER
Neulich an der Tankstelle. Im Kassenraum steht ein maskenloser Mann an der Brötchentheke und erwägt langwierig einen Sandwichkauf. Ich sage zu ihm: »Setzen Sie bitte Ihre Maske auf.« Er: »Ich brauche keine Maske zu tragen, aus medizinischen Gründen.« Ich: »Ich bin Mediziner. Setzen Sie Ihre Maske auf. Es gibt keine medizinischen Gründe, keine zu tragen.« Er: »Ihr seid alle Opfer eines großen Komplotts. Ihr werdet das noch merken, aber dann rettet Euch keiner mehr!« Der Tankmann: »Setzen Sie jetzt Ihre Maske auf, die Regeln gelten auch für Sie!« Und so weiter, ich mache es kurz: Die Geschichte ging so aus, dass schließlich neun andere Kunden um den maskenlosen Mann herumstanden und ihn aufforderten, seine Maske anzulegen. Der Tankmann telefonierte mit der Polizei, um sein Hausrecht durchzusetzen. Der Maskenverweigerer dozierte Irrsinn.
Das war ein Mittfünfziger, gut gekleidet, äußerlich seriös, gehobener Mittelstand. Ich habe mich gefragt: Hätte es das früher gegeben, dass jemand in einer normalen Alltagssituation gegen eine normativ argumentierende Mehrheit so lange doziert, bis er von der Polizei abgeholt wird? Nein. Ich glaube nicht. Das Verhalten dieses Mannes ist nur so zu erklären, dass er sich als Teil einer gerade nur zufällig abwesenden Mehrheit fühlte, die anwesende Mehrheit daher in seinen Augen eine irregeleitete Minderheit darstellte, deren Auffassungen für ihn so belanglos waren wie die Lockdown-Regelungen der Regierung. Seine Mehrheit war die virtuelle der sozialen Medien. Diese war wirklichkeitsmächtiger als die tatsächlich anwesenden Personen, das bestimmte seine Definition der Situation.
Etwa zur selben Zeit erreichte uns bei der taz FUTURZWEI eine E-Mail eines offenbar sehr gebildeten, sich als kritisch verstehenden Ehepaares, das sich als »begeisterte Leser« von taz und FUTURZWEI bezeichnete, allerdings als nunmehr total enttäuschte, da beide Medien zur Erschütterung des Paares in das »Narrativ der Mainstream-Medien« einstimmten und keine kritische Position zur Corona-Politik der Regierung einnähmen. Das Schreiben, das rational begann, steigerte sich Zeile für Zeile in ein Crescendo des Irrsinns: Opposition fände nicht mehr statt, »regierungs- und WHO-kritische Kanäle« würden »im Minutentakt« gelöscht. Zwischenfazit: »Was für ein Staat soll hier errichtet werden?«
Kreative Ideen für eine neue Welt
taz-Abo gekündigt, Genossenschaft auch. Aber damit keineswegs genug. »Wir«, schreibt das Ehepaar, »haben auf ›social media‹ überzeugende, alternative Formate gefunden und bemerken, wie sehr es uns anregt und begeistert, diesen großartigen Menschen zuzuhören, die sehr kreative Ideen für eine Welt nach dem Corona-Wahnsinn haben.« Und weiter: »Wir hoffen sehr, dass sich immer mehr mutige Richter, Journalisten, Anwälte, Ärzte, Eltern, Lehrer, Polizisten, Unternehmer, Künstler und Menschen finden, die ihr Leben miteinander in Freiheit gestalten wollen und damit zu einer neuen Welt beitragen, in der die Fähigkeiten jedes Einzelnen mehr zählen als die Geldspritzen von Big Pharma und Co.« Und schließlich: »Wir sind bereits viele, und wir werden immer mehr.«
Solche Schreiben habe ich nach einigen öffentlichen und deutlich abfälligen Äußerungen zu den Corona-Protesten einige bekommen, und zwar von Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss, offenbar schreib- und grundsätzlich denkfähig, übrigens alle mit demselben narrativen Bogen vom seriösen Anfang bis zum durchgedrehten Schluss. Ihre Autorinnen und Autoren vollziehen gewissermaßen im Schreiben ihren Weg von der konventionellen Haltung in die Abweichung semantisch nach, und das macht die Briefe, sagen wir, etwas unheimlich.
Es ist nun oft betont worden, dass die Gemeinde der Corona-Protestler äußerst heterogen sei, und der Augenschein belegt das: Bei den Berliner Protesten versammelte sich eine Gemeinde, die vom Reichsbürger und Hardcore-Nazi über die Hippie-Tante, den Friedensbewegten, die Esoterikerin, den Rentner im Rollstuhl bis zu Mittelklasse-Normalos reichte. Sehr bunt, zweifellos, diese Community, und in dem Sinn sehr liberal, dass sie ganz offenbar miteinander keine Probleme hatte. Dafür reicht bemerkenswerterweise schon der fiktionale gemeinsame Nenner aus, dass jemand Ominöses – »die Regierung«, »die Politik«, »die Eliten« und einige supermächtige Einzelpersonen – Freiheit beschränke, Grundrechte aushebele und eben, ich zitiere nochmals das Ehepaar, mit Macht einen anderen Staat errichte.
Jedes Faktum lässt sich als »Fake News« in das Universum der Verschwörung einordnen
Aus meinem Bekanntenkreis wird berichtet, dass der Drift in die Welt der selbsternannten »Querdenker« nicht selten am Beispiel des eigenen Vaters, Bruders oder Freundes erlebt werde und dass man die Lieben schon nach kurzer Zeit argumentativ nicht mehr erreiche. Das kann man erklären: Denn wer sich erstmal der Theorie verschrieben hat, dass alle Mächtigen gemeinsam eine große Verschwörung angezettelt haben, lässt sich jedes Faktum, jedes Datum als »Fake News« in das Universum dieser Verschwörung einordnen. Und jede, die Fakten aufzählt und Daten nennt, als verblendet und verblödet, als »Schlafschaf«, wie eine der Wortschöpfungen der Irren lautet. Schon Gordon Allport, der Urvater der Vorurteilspsychologie, hatte überzeugend dargelegt, dass man Vorurteilen – etwa antisemitischer oder rassistischer Natur – nicht mit den Mitteln der aufklärenden Information begegnen kann: Vorurteile sind nämlich selbstdienlich, sie geben denen, die sie hegen und pflegen etwas, vor allem Orientierung.
Deshalb stößt die Aufklärung selbst bei solchen Querdenkern auf Granit, die gerade auf die Intensivstation verlegt werden, weil ihre Corona-Infektion einen schweren Verlauf zu nehmen beginnt. Gerade hier sieht man doch, wozu die Eliten fähig sind, wenn ihnen die freie Meinungsäußerung missliebig oder gar gefährlich scheint! Mit anderen Worten: Ist eine Wahnwelt erstmal betreten und fühlt man sich gut in ihr aufgehoben, hat die Wirklichkeit keine Chance mehr, durchzudringen. So weit, so erklärlich.
Wo liegt der emotionale Attraktionswert einer Fantasiewelt?
Wofür ich allerdings keine Erklärung habe: Warum die Realitätsstützen – also Wissenschaft, Schulwissen, Autoritäten, Wissenschaft, die eigene soziale Gruppe – in so kurzer Zeit als Referenz für die eigenen Deutungen ausfallen oder sich ins Gegenteil verkehren und warum »ganz normale Menschen« den Marsch ins Phantasma antreten, obwohl die wirkliche Welt, in der sie leben, doch offenbar recht gut funktioniert. Wo liegt der emotionale Attraktionswert dieser Form von Abdrift?
Leider ist dieses Phänomen nicht so vernachlässigbar, wie ich es gern hätte. Wenn man etwa die 74 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner nimmt, die einen der Hauptdarsteller einer den Querdenkern wahlverwandten Wahnwelt gewählt haben, darf man schon schlucken. »Gerade noch mal gutgegangen« heißt ja lediglich, dass nur die eine Hälfte der wählenden Bevölkerung der USA den konventionellen Kandidaten bevorzugt hat, die andere Hälfte aber das Phantasma vorzieht. Und historisch muss man ja leider eine Reihe kollektiver Abmärsche in Wahnwelten verzeichnen – sei es in die des nationalsozialistischen Vernichtungsrassismus (der übrigens in vielen Zügen den Verschwörungstheorien der Querdenker gleicht), sei es in die Schöpfungsfantasien des »neuen Menschen«, die die Anhängerinnen und Anhänger totalitärer Systeme kommunistischer Prägung teilten.
Das große Problem bei all dem: Wenn Menschen Situationen für real halten, dann sind diese in ihren Folgen real. So hat es vor mehr als 100 Jahren der Sozialpsychologe William Thomas formuliert. Das heißt: Eine Wirklichkeitswahrnehmung kann so irre sein, wie man es sich nur vorstellen kann – wenn Menschen auf der Grundlage einer solchen Wahrnehmung handeln, schafft dieses Handeln nichtsdestoweniger Wirklichkeit. Statistisch konnte man das an den Inzidenzzahlen in jenen Bundesländern und Landkreisen ablesen, wo die AfD und die Querdenkerinnen stark waren, aber in historischer Perspektive gilt das für ganze Gesellschaften, deren Mitglieder langsamer oder schneller, aber jedenfalls final abdriften können in Welten, die etwa vor einer »jüdischen Weltverschwörung« bewahrt oder gegen »Verräter«, »Spione« oder »Konterrevolutionäre« geschützt werden müssten.
In den sozialen Medien findet sich eine Vielfalt an konkurrierende Wirklichkeitsdeutungen
Heute trägt zu solcher Drift bei, dass die sogenannten sozialen Medien konkurrierende Wirklichkeitsdeutungen in großer Zahl anbieten und so jene Echokammern bilden, die etwa dem Mann von der Tankstelle eine mentale Heimat bieten. Und sicher muss man in Rechnung stellen, dass die demokratischen Gesellschaften heute nicht nur plural, sondern eben auch parzelliert, dissoziativ, unübersichtlich sind. Deshalb bilden sich, wie Hans-Georg Soeffner in einem Text zur »Macht aus Ohnmacht« geschrieben hat, Gruppen, die »Spezialmoralen« entwickeln, indem sie eine Gemeinschaftsbindung gerade dadurch herstellen, dass sie gemeinsame Gegner identifizieren und verurteilen. So werden Gesellschaften, schreibt Soeffner, »einerseits als ganze zunehmend moralisiert, während andererseits gleichzeitig eine übergreifende Wertorientierung verloren geht: Die ›gesellschaftliche Moral‹ besteht im Wesentlichen aus einander bekämpfenden Gruppenmoralen, die sich neben den und gegen die Rechts- und Verfahrensordnungen der repräsentativen Demokratie etablieren«.
Das stimmt mit der zu beobachtenden Konjunktur des Moralismus und seiner Ausgrenzungswünsche überein – übrigens auch dort, wo man selbige aus unerfindlichen Gründen als »links« versteht – und beschreibt eine gesellschaftliche Drift, die sich gerade in einer Krise dynamisiert, die überraschenderweise Staat und Politik als wider Erwarten unzuverlässigen Lieferbetrieb von Komfort und Sicherheit erscheinen lässt.
Wie sich das aber in so etwas wie eine dynamische Radikalisierung der eigenen Mentalität übersetzt, wie man sich also nicht nur in Gegensatz zu einem behaupteten Mainstream setzt, sondern gewissermaßen gegen eine frühere Fassung seiner selbst opponiert, bleibt mir einstweilen noch unerklärlich. Wir sollten das zu ergründen versuchen, denn es scheint mir äußerst gefährlich.
Harald Welzer ist Herausgeber des Magazins taz FUTURZWEI.