: Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit
■ betr.: „Disziplinarstrafe gegen Lübecks Bürgermeister“, taz vom 12. 12. 96
Der von ihnen berichteten Disziplinarmaßnahme gegen den Bürgermeister von Lübeck, Michael Bouteiller, muß entschieden widersprochen werden. Schon in meiner Laudatio während der Feierstunde zur Verleihung der Clara- Immerwahr-Medaille der IPPNW am 29. 9. d. J. in Lübeck habe ich gerade angesichts des laufenden Disziplinarverfahrens namens der Humanistischen Union, der Gustav-Heinemann-Initiative und der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ) ausgeführt, daß das humane Eintreten von Michael Bouteiller für die Opfer der Lübecker Brandkatastrophe ebenso die Bewertung als „Aktiver Verfassungsschutz“ verdient wie der zivile Ungehorsam gegen die Stationierung der Pershing-II-Atomraketen. Ging es damals darum, mit dem Schutz der Menschen vor dem Untergang auch ihre normativen Bezugsfelder, also auch die Verfassung zu schützen, leistete Michael Bouteiller mutig den gebotenen Schutz der Menschenwürde der Brandopfer, ihres höchsten Rechtsguts nach unserer Verfassung, das auch gegenüber Ausländern „zu achten und zu schützen Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist, auch von Bürgermeistern und Innenministern“.
Noch nicht ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen, wohl aber von allen Bürgern zu befolgen ist ihre Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit, eine Verpflichtung, die in Vervollständigung der Rezeption der Grundwerte unserer verfassungsrechtlichen Existenz aus dem Ideengut der Französischen Revolution (also neben Freiheit und Gleichheit auch Brüderlichkeit) im Rahmen der Vereinigungs-Verfassungsreform aufgrund eines interfraktionellen Antrags in das GG aufgenommen werden sollte und die Zweidrittelmehrheit nur knapp verfehlte. Auch diese Mitmenschlichkeit hat Michael Bouteiller mit seiner schnellen, von tiefer Humanität getragenen Hilfe für in größter seelischer Not befindliche Brandopfer bewiesen. Ihn demgegenüber auf die formale Zuständigkeit für das Ausstellen formaler Papiere und gar auf Zusagen der Regimes diktatorischer Verfolgerstaaten oder des mancher Fehlbeurteilungen überführten Auswärtigen Amtes zu verweisen und zu verlangen, solches auch noch gegenüber den existentiell Betroffenen in Abkehr von seinem spontan menschlichen Verhalten der ersten Stunde zu vertreten, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch juristisch nicht haltbar, wenn man den grundgesetzlichen Höchstwert von Schutz und Achtung der Menschenwürde auch als Auslegungsregel für alles Recht ernst nimmt. Erich Küchenhoff,
Universitätsprofessor, Münster
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