Verpasste Chance : Eine Frau, die lächelte
Ich war mit dem Fahrrad gefahren. Das war ungewöhnlich; erst seit meine Mutter mir ein Rad geschenkt hatte, auf dem die Geburtsstadt einer Freundin als Marke angegeben stand, fahre ich wieder mit einem Rad durch die Stadt. Und zwar schnell, stolz und vorsichtig. An einem dieser Vertretungstage in der fremden Redaktion band ich das gute Stück an ein Straßenschild. Als ich es nach der Arbeit wieder losbinden wollte, musste ich feststellen, dass das nicht ging.
Ein Witzbold hatte sein Rad kurzerhand an meins gebunden! Aufbruch zwecklos. Ich konnte es nicht fassen und wartete. Ich fragte in der gegenüberliegenden Bäckerei. Ich machte einen Spaziergang, kaufte Unterwäsche, ging eine Pizza essen, saß lesend in der Sonne, dem Fahrrad gegenüber. Der Besitzer des anderen Rads, eines sportlichen Männerrads einer unterlegenen Marke, wollte und wollte nicht auftauchen. Nach gut zwei Stunden gab ich auf, hinterließ einen Zettel mit meiner Nummer und nahm die Tram.
In der Tram lächelte ich eine Frau am Fahrkartenautomaten an, eher aus Verlegenheit, aber sie lächelte zurück. Später verabschiedete ich mich hastig und stieg in die U-Bahn. Ein Fehler, eine Gelegenheit, die das Schicksal mir servierte, die ich aber vor lauter Ärger wegen meines Rads nicht annehmen konnte. Ich war einfach zu durcheinander.
Den ganzen Abend über wartete ich auf Nachricht, aber es kam keine. Ich schaute halbstündlich aufs Display meines Telefons und malte mir aus, dass das Fremdanbinden nur ein Trick eines Gelegenheitsdiebs sein konnte. So nach dem Motto: Klaue ich später. Oder jemand übte sich in Alltagssubversion. Sehr zu meinem Ärger.
Am nächsten Morgen war mein Rad wieder frei. Der Zettel befand sich jetzt auf meinem Gepäckträger. Auf der Rückseite stand das einfache Wort „Sorry“. Immerhin mit Ausrufezeichen.
RENÉ HAMANN