Verlängerte Adoleszenz: An Ikea stören mich die vielen Leute
Das Stuttgarter Duo Rocket/Freudental serviert auf seinem neuen Album "Die meisten Irren" kaputten Schweinerock mit irrlichternden Gitarrensoli und wütenden Texten.
BERLIN taz | Im Ländle fallen Feinderklärungen noch leicht, auch nachdem CDU-Ekel Mappus verjagt wurde und bei Stuttgart 21 der Drops so gut wie gelutscht ist. "Graumelierte Schläfen / Im Land der sicheren Häfen, raus bei jedem Wetter / Reich mir mal die Bruschetta! Wir sind die Herrscher dieser Erde! Und so müssen wir verwalten eine Krone und ein Zepter / Wir sind die wohlgereiften Alten", singt Rocket/Freudental-Sänger André Möhl im Auftaktsong von "Die meisten Irren", dem neuen Album des Stuttgarter Duos. Wer da wohl gemeint ist?
Robert Steng, der für Instrumente und Elektronik zuständig ist, erklärt es so: "Wohlgereifte Alte, die gibt es ja im Stuttgarter Speckgürtel mehr als genug, auf beiden Seiten der Kampflinie um Stuttgart 21. Die sind ein universelles Phänomen: Leute, die es gewohnt sind, andere zu beherrschen und ihren Profit zu machen."
Das neue Album von Rocket/Freudental ist denn auch getrieben von einer metaphysischen Wut, die keine konkreten Feinde braucht, sie sich aber lustvoll krallt, sobald sie auf der Bildfläche erscheinen. André Möhl - im Innencover des Albums heißt er "Anderl" - singt seine Texte mit einer deklamatorischen Dringlichkeit, die an Tommi Stumpf, Schorsch Kamerun und Kristof Schreuf erinnert, trotz einer ähnlich überreizten Nervosität aber nie epigonal klingt.
Wie bei den Goldenen Zitronen geht es in den Texten von Rocket/Freudental irgendwie um Kapitalismus, also um alles. Auf den Punkt gebracht wird das stressige und ätzende Ganze in subjektpolitischen Ansagen ("Ich bin eine Katastrophe") oder in Anrufungen, die den schwäbischen Protestantismus heraufbeschwören: "Was soll die Miesepeterei? Du bist doch deines Glückes Schmied / Streng dich dochn bisschen an / Damit man ein Ergebnis sieht."
"Für Flüssigkeiten und Schwingungen"
Rocket/Freudental gründeten sich 1999 während Robert Steng seinen Zivildienst in Berlin machte. "Die meisten Irren" ist ihr fünftes Album und das erste seit 2006. Längst wohnen beide Bandmitglieder wieder in Stuttgart, wo Steng um die Jahrtausendwende das Künstlerkollektiv "Für Flüssigkeiten und Schwingungen" (FFUS) mitgründete.
FFUS betreibt bis heute in einem leerstehenden Bahnwaggon den inzwischen schon legendären Waggon-Club, im Boheme-Volksmund "Wägele" genannt. Der Club ist eine temporäre autonome Zone, die es - Paradoxie der Geschichte - ohne die Planungen für Stuttgart 21 so wohl nie gegeben hätte.
Der kleine Waggon am ehemaligen Nordbahnhof ist mit seinen intensiven Konzerten, historistischen DJ-Abenden und bekömmlichen Alkoholangeboten ein entscheidender Energiepol der Stuttgarter Subkultur, von dem nicht zuletzt Rocket/Freudental zehren. Steng hat vorübergehend in einem Waggon daneben gewohnt und dort als bildender Künstler sein Atelier gehabt.
Die Bandgründung während der Zivildienstzeit könnte von ästhetischer Bedeutung sein - verlängert der Zivildienst doch künstlich die Phase von Pennälertum und Adoleszenz und bringt das hervor, was man im Englischen overgrown adolescents nennt.
Schwanken zwischen Herrlichkeit und Absturz
Auf "Die meisten Irren" macht sich diese Verweigerung des Erwachsenwerdens überaus sympathisch durch ein emotionales Schwanken zwischen Herrlichkeit und Absturz und vor allem durch Kraftausdrücke bemerkbar. "Arsch" und "Scheiße" aber auch "Chefetagenschweine" und "Superficker" sind typische Idiome in der Rocket/Freudental-Poetik.
Ihre Vulgärsprache dient hier im Sinne eines linkspopulistischen Identifikationsangebots dem Dampfablassen, hat allerdings zudem eine sozialanalytische Funktion. Aus altem Deutschpunk ist die rhetorische Geste bekannt, durch überzogene Verbalangriffe Machtverhältnisse zu kristallisieren; man denke an "Bullenschweine" von Slime oder die Stuttgarter Punkband Normahl und ihren Song "Popperschwein".
Rocket/Freudental setzen diese Attacke intelligenter und sanfter fort, in dem Wissen, dass auch heute noch einige Zustände lange nicht so ambivalent sind, wie es der postmoderne Verkomplizierer gerne hätte. Gleichzeitig überschreiten Rocket/Freudental die undialektische Aggrosprache oft genug.
In "Meine Eltern haben ein Fischrestaurant in St. Peter Ording" setzt das Duo uneigentliches Sprechen ein, um ein entleertes, pseudobedeutsames Reden aus der Ich-Perspektive zu demontieren. Das Stück erinnert damit inhaltlich an "0:30 Gleiches Ambiente" von den Goldenen Zitronen. Eine Textzeile geht so: "Was mich an Ikea stört, das sind die vielen Leute."
Gitarrensoli und verbrämte Muckergesten
Wer nun nur die Texte lesen würde, würde sich dazu wahrscheinlich amtlichen Electropunk nach Bauart von Egotronic oder Saalschutz vorstellen. Doch es kommt ganz anders, und das ist mit das Besondere an Rocket/Freudental. Wir hören nämlich meist einen gut informierten und wohltemperierten Schweinerock - inklusive Gitarrensoli und verbrämten Muckergesten.
Diese ästhetische Unkorrektheit genießt sich nie selbst, sondern ringt kulturell verfemten Gitarrenritualen eine vollkommen unironische Schönheit ab. Teilweise klingt das nach klassischem Rock, andernorts wie hysterisierter Bluesrock oder wie der Prä-Punkrock von Dr Feelgood und Johnny Moped. Gelegentlich sind Filtergimmicks und Sampleeinlagen à la Daft Punk zu hören.
"Das mit dem Classic Rock meinen wir auf keinen Fall ironisch", sagt Steng. "Wir lieben diese Musik, Jimi Hendrix, Neil Young, Janis Joplin und wie sie alle heißen. Und Gitarrensoli gehören eben dazu, man wächst daran: Als Jugendlicher lehnt man sie ab, aber danach werden sie immer geiler."
Eingespielt wurden die Soli von dem famosen Gitarristen Hans-Jörg "Ali" Greiner, weil - so Steng - er selbst keine spielen könne. Greiner, der schon öfters live mit Rocket/Freudental auf der Bühne stand, gehört zur Band Metabolismus, einem Neo-Krautrock/Progrock-Kollektiv, das für Stuttgart zu einer bestimmten Zeit so wichtig war wie Kai Althoffs Band Workshop für Köln.
Connaisseurhaft
Das Verhältnis von Möhl und Steng zum Vulgären und Verfemten ist connaisseurhaft ohne augenzwinkernd zu sein. Selbstredend klingt ihre Musik keineswegs ungebrochen nach rockistischem Gemucke. In ihrer verfremdenden Aneignung erinnern sich Rocket/Freudental an die Musik ihrer Kindheit und laden diese Erinnerung nostalgisch auf, ohne in schiere Sentimentalität zu verfallen.
Man sollte deswegen genau hinhören, wenn inmitten der neorockistischen Parolen und Kapriolen schöne Details und Winkelzüge auftauchen: ein gelooptes Quietschen wie in "Hoch die Tassen" oder halluzinatorische Drumbreaks zwischen einigen Stücken.
"Wir sind zwei D.i.Y.-Boys, die eigentlich Stadionrock machen wollen", erklärt André Möhl den Rocket/Freudental-Ansatz geradezu programmatisch. Dass Rocket/Freudental mit ihrer Rock-Aneignung nicht in die subjektivistische Zufallstüte gegriffen haben, sondern eine popmusikalische Universalschulung hinter sich haben, zeigt sich in ästhetisch abweichenden Songs wie "Bitte warten Sie", der die suiteartige Struktur von Moondog-Stücken nachahmt, oder in "Atmung & Blut", das eine Ballade von Lou Reed sein könnte.
Dieser wundervolle Song öffnet ganz am Ende des Albums ein utopisches Fenster im universellen Scheiße-Finden. Das von Kapital und Alltag zermürbte Ich scheint in der Natur einen egalitären Zufluchtsort zu finden: "Über mir nur Sterne und Sonne und Mond / Sonst gibts da keinen, der über mir wohnt."
Steng will diese konkrete Utopie durchaus im Sinne spezifischer schwäbischer Boheme-Traditionen verstanden wissen: "Feiern auf der Streuobstwiese in klarer Nacht mit Lagerfeuer und Rockmusik, Freaks mit Mercedes Strich 8, WGs in alten Bauernhäusern, Tonstudios auf der Schwäbischen Alb … deshalb sind wir aus Berlin wieder weg."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren