piwik no script img

Verhaltene Reaktionen des Westens

■ Das offizielle Bedauern der westlichen Politiker übergeht die inhaltliche Begründung Schewardnadses

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) hat nach der Rücktrittsankündigung seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse die Notwendigkeit weiterer Unterstützung für die Reformkräfte in der UdSSR unterstrichen. Am Rande der Bundestagssitzung in Berlin sagte Genscher am Donnerstag, wenn Schewardnadse sich zu einem solchen Schritt veranlaßt sehe, dann „sollte das die Welt aufhorchen lassen“. Genscher war mit seinem sowjetischen Amtskollegen befreundet und wurde von dem Schritt Schewardnadses offenbar völlig überrascht.

Bundeskanzler Helmut Kohl hat den Rücktritt des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse bedauert und damit kommentiert, der dramatische Schritt habe möglicherweise den Sinn, die Sowjetbürger aufzurütteln und sie auf die Gefahren für die Politik der Perestroika aufmerksam zu machen. Kohl wollte weder die politische Erklärung Schewardnadses noch die Zukunft Gorbatschows kommentieren. Schewardnadses habe viel Verständnis für die deutschen Probleme gehabt, sagte Kohl, sein Rücktritt sei ein Verlust für die Entwicklung in Europa.

Der ehemalige DDR-Außenminister Meckel (SPD) zeigte sich „erschüttert“ und meinte, der Rücktritt gefährde auch die „Möglichkeiten einer strukturellen Hilfeleistung“ für die Sowjetunion. Er denke allerdings, daß es kein Zurück zu einer stalinistischen Herrschaft gebe.

Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General John Galvin, erklärte: „Den Sowjets steht mit Sicherheit ein schwerer Winter bevor. Ich hoffe, daß das, was wir jetzt hören, nicht alles noch schlimmer macht.“ Jedem im Westen sei daran gelegen, daß die Reformen in der UdSSR fortgesetzt würden, heißt es in einer vom Nato-Hauptquartier in Mons (Belgien) herausgegebenen Stellungnahme. „Dies müsse aber so geschehen, daß die Ordnung aufrechterhalten bleibe und die Prinzipien der Demokratie nicht geopfert werden.“

Professor Heinrich Vogel, ein namhafter deutscher Ost-Wissenschaftler, hat das Rücktrittsangebot von Eduard Schewardnadse als einen Versuch des sowjetischen Außenministers gewertet, Präsident Michail Gorbatschow im Konflikt mit den konservativen Kräften zu einer öffentlichen Stellungnahme zu bewegen. Wenn er den Rücktritt annehme, dann mache er sich zum Gefangenen des militärisch-industriellen Komplexes.

Nach Auffassung Vogels gilt Schewardnadse unter den Militärführern, die den alten Zeiten nachtrauerten, als „der bestgehaßte Mann in der Truppe Gorbatschows“. Schewardnadse sei mit seinem Rücktrittsangebot wohl einer Abwahl oder einer Gorbatschow abgerungenen Rücktrittsforderung zuvorgekommen, der ebenso wie Schewardnadse selbst einem sehr starken Druck hinter den Kulissen ausgesetzt sei, mutmaßte der Ost-Wissenschaftler. Der konservative Block in der sowjetischen Armee habe schon vor einiger Zeit auch den Rücktritt des Innenministers Wadim Bakatin gefordert. Bakatin sei vor etwa zwei Wochen durch den ehemaligen KGB-Chef von Lettland, Pugo, ersetzt worden. Und dessen Stellvertreter sei, mit General Gromow, ein Militär geworden. „Das war auch nach außen hin ein erstes Anzeichen für den Erfolg der militärischen Fronde“, meinte Professor Vogel. dpa/afp/ap

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen