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Archiv-Artikel

Verführungen

„Monster und Wunderkinder“ des Teatro de Ciertos Habitantes erzählt im HAU die Geschichte der Kastraten

Knabenchöre sind sicher nicht für jeden etwas. Doch lässt sich nicht bestreiten, dass die Sopranstimmen von Jungen so klar und hell klingen, dass der Gedanke an Engelsstimmen nahe liegt.

Der Wunsch, diesen Klang zu bewahren, war einst so groß, dass im 17. Jahrhundert ein Barbier zur Tat schritt und mittels eines chirurgischen Eingriffs einen neuen Berufsstand schuf, die castrati. Die Geschichte dieses Eingriffs und seiner Folgen ist Thema von Patrick Barbiers Buch „The World of the Castrati“, das Jorge und Claudio Valdés Kuri als Vorlage für ihr mehrfach ausgezeichnetes Stück „Monster und Wunderkinder. Die Geschichte der Kastraten“ diente. Wie der mexikanische Regisseur Claudio Valdés Kuri mit seinem Ensemble Teatro de Ciertos Habitantes am Donnerstag im HAU vorführte, muss die Adaption von Geschichtsbüchern keinesfalls eine trockene Angelegenheit sein.

Die Kastraten waren im 18. Jahrhundert die Stars der Oper, die Sinnlichkeit ihrer Stimme begeisterte Männer wie Frauen – Letztere sollen den zwar zeugungsunfähigen, im Übrigen aber sexuell durchaus potenten androgynen Sängern „zu Füßen gelegen“ haben. Ganze Opern wurden eigens für sie geschrieben. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Knaben zwecks Stimmerhalt unter das Messer.

Den heiklen Status der Kastraten beschwört eingangs kein Geringerer als der Kentaur Cheiron, der sie spuckend und stampfend als Zwitterwesen charakterisiert, deren Stimme den „Abgrund zwischen Monster und Wundergeschöpf“ überspringe. Im weiteren Verlauf kommen Monstrositäten verschiedenster Art auf die Bühne und zur Sprache, bis hin zur haarsträubenden Schilderung der unterschiedlichen Kastrationsformen. Durch das Stück führen als Erzähler die siamesischen Zwillings-Barbiere Jean und Ambroise Paré, souverän gespielt von Raúl Román und Gastón Yanes. Auf der nahezu leeren Bühne entsteht durch ihre unglaublichen Ausführungen, die szenisch illustriert, mit Gesangseinlagen und slapstickartiger Komik angereichert werden, eine schrille Lebendigkeit. Dass gelegentlich ein Schimmel über die Bühne trabt, vermag inmitten all des Klamauks kaum noch zu überraschen.

Obwohl kräftig überzeichnet wird, geht dies nicht zu Lasten des Stücks. Vielmehr spiegelt die Inszenierung die Monstrosität des Themas. Die eigentliche Provokation steckt hingegen im Text. So kann man von der zwiespältigen Haltung des Vatikans erfahren, der die Kastrationen einerseits verurteilte, andererseits jedoch die besten Kastraten als Sänger in die päpstliche Kapelle aufnahm.

Oder dass die Stimmen der meisten Kastraten, oft Söhne armer Eltern, denen man Reichtum in Aussicht gestellt hatte, für eine Sängerkarriere zu schrill waren, so dass die Kastration „nutzlos“ war und das Leben des Betroffenen ruiniert. Einblicke in den Alltag einer Kastratenschule gewährt das Stück ebenso wie Kostproben von Kastraten-Arien, gesungen von dem Sopranisten Javier Medina. Der Sänger, für den der Regisseur das Stück entwickelte, erkrankte als Kind an Leukämie und wurde bei der Behandlung versehentlich kastriert. Am Ende des Stücks sitzt Medina verlassen und weinend auf der Bühne. Als gespenstischer Abgesang erklingt dazu die Stimme von Alessandro Moreschi, dem letzten Kastraten der päpstlichen Kapelle, mit seiner Schallplattenaufnahme des „Ave Maria“ aus dem Jahr 1904.

TIM CASPAR BOHEME

„Monster und Wunderkinder“, HAU 1, wieder 3. November, 19.30 Uhr