Verfrühte Wahlprognose im Netz: Der Twitter-Schock
Streit ums Web 2.0: Umfrageergebnisse sickerten am Wahlsonntag vor Schließung der Urnen durch. Twitter könnte das Ende der 18-Uhr-Prognose einleiten.
In der aktuellen Ausgabe der hauseigenen WDR-Zeitung beschreibt Gerd Depenbrock, WDR-Leiter des Hauptstadtstudios, ganz akribisch, wie aufwendig es doch sei, bei einer Wahl die berühmte 18-Uhr-Prognose unter Verschluss zu halten. Bis zur Schließung der Wahllokale dürften die Umfrageergebnisse nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Und selbst ARD-Journalisten bekämen die Daten erst 15 Minuten vor Schließung der Wahllokale mitgeteilt, so Depenbrock. Schlecht für die ARD-Journalisten. Am Sonntag wussten tausende von Twitterern schon vorher über die Ergebnisse Bescheid.
Wer zu den Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und in Thüringen am Sonntag vorab wissen wollte, wie die Parteien in diesen so genannten Exit-Polls, also Umfragen am Tag der Stimmabgabe, abgeschnitten haben, der wurde fündig. Er musste bloß beim Kurznachrichtendienst Twitter angemeldet sein und im Suchfenster "Prognose" eingeben. Um Punkt 16.28 Uhr postete ein gewisser "Pedepe" als erster die Umfrageergebnisse für Sachsen: "Hallo, habe aus guter Quelle diese Prognose bekommen", zwitscherte er. Was folgte, war ziemlich identisch mit den Zahlen, die dann die ARD mit Schließung der Wahllokale um Punkt 18 Uhr verkündete. Und auch die Zahlen für Thüringen und das Saarland waren bereits gegen 16.30 Uhr öffentlich auf Twitter zu finden. Gezwitschert hat hier ein "PR_Radebeul" alias Patrick Rudolph, seines Zeichens CDU-Vorsitzender im Stadtverband Radebeul (Sachsen), der die Prognosen gleich aller drei Bundesländer ins Netz gestellt haben könnte. Er selbst bestreitet seine Tat. "Ich weiß nicht, wer das geschrieben hat", beteuert Rudolph auf Anfrage von Spiegel Online. Er sei es jedenfalls nicht gewesen - und habe den Account deswegen gelöscht.
Nun tobt ein heftiger Streit um den Mikrobloggingdienst. Nicht nur, dass es hierzulande verboten ist, am Wahltag erhobene Umfrageergebnisse vor Schließung der Wahllokale öffentlich zu machen. Ob über ein Flugblatt, im Fernsehen oder eben über Twitter im Internet - die Art der Verbreitung ist egal. Wer Umfrageergebnisse verrät, kann mit einer Geldbuße von bis zu 50.000 Euro belegt werden. Nur Politikern und Journalisten ist es erlaubt, die Ergebnisse vorab zu erhalten - damit sie sich auf ihre Reden, Beiträge und Interviews schon mal vorbereiten können.
Doch es geht nicht nur um das Wahlgesetz. Wahlleiter befürchten, dass die vorab verkündeten Umfrageergebnisse auf Twitter all jene beeinflussen könnten, die ihre Stimme bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgegeben haben. Als "in der Tat höchst problematisch" bezeichnete es der stellvertretende sächsische Landeswahlleiter Uwe Reimund Korzen-Krüger. Sein Amt werde den Sachverhalt nun genau prüfen. Noch besorgter zeigt sich der Bundeswahlleiter Roderich Egeler. Von einem "GAU" spricht er, falls auch bei der Bundestagswahl am 27. September die Ergebnisse vor 18 Uhr über den Onlinedienstleister bekannt gemacht werden. Die Wahl könnte nachträglich angefochten und für ungültig erklärt werden.
Und in der Tat ist eine Wahlbeeinflussung am späten Nachmittag des Wahlsonntags keineswegs abwegig. Sollte die Prognose knapp ausfallen, könnte es viele anspornen, doch noch zügig zur Wahl zu gehen. Gerade kleine Parteien, die um die Fünfprozenthürde herum dümpeln, würden davon profitieren. Insbesondere die Grünen-Wählerschaft gilt als besonders netzaffin. Aber auch für das rechtsextremen Lager wäre eine Vorabprognose hilfreich. Große Teile der neonazistischen Szene sind eigentlich antiparlamentarisch und institutionenfeindlich eingestellt. Kriegen ihre Anhänger ein oder zwei Stunden vor Schluss mit, dass der Einzug einer rechtsextremen Partei in ein Landesparlament möglich ist oder auf der Kippe steht, könnten sie sich noch spontan für den Urnengang entscheiden. Bei der Wahl am Sonntag verfehlte die NPD in Thüringen knapp die Fünfprozenthürde. In Sachsen schaffte sie es - ebenfalls knapp. Ob der Twitter-Faktor eine Rolle spielt, auch das will der sächsische Landeswahlleiter prüfen.
Wie gravierend der Einfluss dieser Vorabinfo tatsächlich ist, wird sich wohl nicht genau ermitteln lassen. Vielleicht ist das aber auch gar nicht schlimm und man muss sich einfach daran gewöhnen, dass die Prognose um 18 Uhr dann eben nicht mehr der spannende Moment ist - sondern die um 16.28 Uhr.
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