: Verfassungsreform: Dawai!
■ Oberster Sowjet der UdSSR verabschiedet Verfassungs- und Wahlreform mit überwältigender Mehrheit / Noch immer Gegenstimmen aus dem Baltikum
Moskau (ap/taz) - Der Oberste Sowjet der UdSSR hat gestern mit überwältigender Mehrheit die von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow gewünschte Verfassungsreform gebilligt und damit den Weg für eine tiefgreifende Veränderung der politischen Strukturen der Sowjetunion freigemacht. Von den 1.500 Abgeordneten stimmten fünf gegen die Vorlage, 27 enthielten sich der Stimme.
Zwei Ausschüsse hatten der Nachrichtenagentur 'Tass‘ zufolge nach Abschluß der zweitägigen Debatte im Obersten Sowjet in der Nacht über Änderungen des vorgelegten Entwurfs beraten. In der Debatte hatten drei Dutzend Abgeordnete kritisiert, daß in den Entwürfen der Zentralregierung in Moskau zu viel Macht eingeräumt werde und eine Überarbeitung verlangt. Vor allem Politiker aus dem Baltikum und aus Transkaukasien hatten Vorbehalte deutlich gemacht und es wurde bekannt, daß drei der Gegenstimmen von Abgeordneten aus Estland stammten.
Gorbatschow lobte nach der Abstimmung in einer kurzen Rede die Abgeordneten für die offene Aussprache. Sie hätten damit dazu beigetragen, die in einigen Punkten mangelhafte Fassung zu verbessern, sagte er.
Nach der Verfassungsreform soll ein Präsidentenamt mit erweiterten Befugnissen geschaffen werden.
Der Oberste Sowjet ist in seiner bisherigen Zusammensetzung „zum letzten Mal“ zusammengetreten. Ein neu zu schaffender Kongreß der Volksdeputierten soll im Frühjahr den Staatspräsidenten wählen.
Das neue Wahlgesetz wurde einstimmig gutgeheißen. Es ist anzunehmen, daß viele Bestimmungen zuletzt präzisiert wurden. Die neue Redaktion der beiden Reformprojekte lag gestern noch nicht vor. Sicher ist, daß künftig kein politisches Amt von der gleichen Person länger als zweimal fünf Jahre ausgeübt werden darf.
Einige Artikel der neuen Verfassung, nach denen Grenzen von Unionsrepubliken verändert und Notstandsmaßnahmen verhängt werden können, hatten die baltischen Staaten Georgien und Armenien als Einschränkung ihrer Autonomie beanstandet. Diese sollen in einer zweiten Etappe der Umgestaltung im kommenden Sommer päzisiert werden.
Am Ende der als historisch bezeichneten Konferenz spielte Gorbatschow auf den Satz des estnischen Parlamentspräsidenten Rüütel an: Estland ziehe es vor, seine eigene politische Struktur zu errichten, statt eine in Moskau entworfene zu akzeptieren. Es sei unmöglich, für alle Teile der Sowjetunion ein optimales politisches System zu schaffen.
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