: Verfassungsrechtlich problematisch
betr.: „Neu: Essen aus der Genküche“, taz vom 15. 11. 05
Die von der großen Koalition vereinbarte Lockerung des gentechnikrechtlichen Haftungsrechts in Richtung auf eine Fondslösung ist ordnungspolitisch und verfassungsrechtlich problematisch.
1. Die durch das Grundgesetz, das EU-Recht und die WTO vorgegebene Wirtschaftsverfassung geht von einer möglichst von staatlichen Einflüssen frei gehaltenen Wirtschaftstätigkeit aus. Der wirtschaftende Unternehmer soll die Chancen seiner Tätigkeit nutzen können, aber auch die Risiken hierfür tragen müssen. Auf diese Weise soll eine sinnvolle Allokation von Ressourcen erreicht werden. Der Unternehmer soll auch keine Gewinne auf Kosten des Steuerzahlers machen dürfen. Für den Bereich des Umweltschutzes hat dieser Grundsatz in Form des Verursacherprinzips nach Art. 174 Abs. 2 Satz 2 EG-Vertrag sogar Verfassungsrang. Die Entlastung bestimmter Branchen wie der Agro-Gentechnik von den durch sie verursachten Kosten durch Abwälzung auf einen Fonds ist mit diesen ordnungspolitischen Grundvorstellungen nicht vereinbar.
2. Die Einschaltung eines staatlichen Fonds wäre ein Fremdkörper im zivilrechtlichen Nachbarrecht. Es ist nur schwer begründbar, durch Gentechnik verursachte Immissionen anders zu behandeln als es das BGB seit seiner Einführung bis heute bei allen anderen Immissionsarten tut. Darin liegt eine außergewöhnliche Privilegierung der Gentechnik im Verhältnis zu allen anderen Branchen und ein außergewöhnlicher Systembruch im zivilen Nachbarrecht, der mit dem Willkürverbot und dem Gebot einer konsistenten Gesetzgebung kaum noch zu vereinbaren ist.
3. Selbst wenn man diesen Systembruch für zulässig hält, wäre immer noch bei der konkreten Ausgestaltung sehr genau zu fragen, ob dadurch der Staat noch seinen Schutzverpflichtungen aus Art. 14 GG und 20 a GG nachkommt. Sollte sich der Schutzstandard für gentechnikfrei produzierende Landwirte durch dieses neue System verschlechtern, läge darin neben dem Verstoß gegen deutsches Verfassungsrecht auch noch eine Verletzung europäischen Rechts.
CHRISTOPH PALME, Tübingen