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Verfassungsänderung in Ungarn

■ Kombination von „bürgerlicher Demokratie“ und „demokratischem Sozialismus“ rechtlich verankert

Budapest (afp) - Das ungarische Parlament hat am Mittwoch mit der überwältigenden Mehrheit von 333 gegen 5 Stimmen bei 8 Enthaltungen bedeutende Verfassungsänderungen beschlossen, die dem Land die Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung ermöglichen sollen und die endgültige Abkehr von dem seit 1948 bestehenden Einparteiensystem besiegeln. Wie die offizielle Nachrichtenagentur 'mti‘ meldete, sieht sich das Land nunmehr als „Republik Ungarn“, und nicht mehr als „Volksrepublik Ungarn“. Der Präsidialrat, dessen Präsident Bruno Straub als Staaatsoberhaupt gilt, wird aufgelöst. An seine Stelle tritt ein Staatspräsident, der Ende November direkt vom Volk gewählt werden soll. Die Regierung hat sich bei Verhandlungen mit den größten Oppositionsgruppen des Landes auf dieses Datum geeinigt, obwohl einige liberale Formationen eine Verschiebung des Votums bis nach den Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr verlangen und diese Forderung mit über 200.000 Unterschriften unterstützen wollen. Diese nächsten Parlamentswahlen werden die ersten seit jenen von 1947 sein, bei denen andere Parteien als die kommunistische kandidieren. Aus den neuen Verfassungsbestimmungen geht hervor, daß sich die „Republik Ungarn sowohl an die Werte der bürgerlichen Demokratie als auch jene des demokratischen Sozialismus halten wird“. „Das Wirtschaftssystem wird auf das Prinzip der Marktwirtschaft aufgebaut und die Vorteile der Planwirtschaft und des Privateigentums vereinen.“ Die neue Verfassung sichert den BürgerInnen Reise-, Meinungs- und Gewissensfreiheit sowie freie Religionsausübung zu.

Justizminister Kalman Kulcsar hat die beschlossenen Änderungen als „Schritte in Richtung einer provisorischen Verfassung“ bezeichnet, die eine Veränderung des politischen Systems ermöglichen werden. Nunmehr blieben nur noch 10 Prozent der alten stalinistischen Verfassung in Kraft, meinte er. Eine gänzlich überarbeitete Verfassung soll vom neuen Parlament ausgearbeitet werden, das aus den Wahlen im kommenden Frühjahr hervorgeht. Nach Ansicht von Beobachtern hat Ungarn die Voraussetzungen für die wichtigsten Ereignisse seit der Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 geschaffen: die Direktwahl eines Staatspräsidenten durch das ungarische Volk, die für den 25.11. vorgesehen ist, und die Wahl des neuen Parlaments auf der Basis eines Mehrparteiensystems.

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