Vereinigungsgedanken : „Im Osten beachtete uns kaum einer“
Detlef Kuhlmann, 50 Jahre, Sportwissenschaftler, lief beim Marathon am 30. September 1990 durchs Brandenburger Tor
Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt – so der offizielle Sprachterminus. Viele jubelten, einige trauerten und manche ängstigte, was aus diesem Land werden könnte. Die taz lässt bis zum 3. Oktober Menschen zu Wort kommen, die damals in Berlin waren und die Atmosphäre in der Stadt beschreiben.
„Die wichtigste Frage beim Marathon 1990 war eindeutig: Wie laufe ich durchs Brandenburger Tor? Welche der fünf Durchfahrten nehme ich? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich für die mittlere entscheiden, da wollten schließlich alle durch, aber beschwören kann ich das heute nicht mehr.
Natürlich war es ein erhebendes Gefühl, dort drei Tage vor der Wiedervereinigung als freier Mensch frei durchlaufen zu können. Aber für mich, der 1988 aus Bielefeld nach Westberlin gezogen war, auch schon fast ein Stück Normalität. Der Marathon fand am 30. September statt, da waren die Grenzen schon seit knapp einem Jahr offen und ich nicht zum ersten Mal im Osten. Auch durchs Brandenburger Tor war ich schon gegangen.
Im Jahr vorher war das noch ganz anders. Wahrscheinlich erinnere ich mich deswegen an den Lauf 1989 so viel besser. Im Nachhinein war das mein Lauf in die Einheit. Besonders wenn die Strecke an der Mauer entlangführte, zum Beispiel an der Kochstraße, musste ich an die Menschen ein paar Meter weiter denken, die vielleicht gern mitlaufen wollten, aber nicht konnten. Dieses Gefühl war bei mir sehr stark. Durch Ausreisewellen und Montagsdemos kündigte sich ja schon etwas an, dessen Konsequenzen aber noch niemand absehen konnte. So wurde 1989 alleine deswegen zum historischen Lauf, weil es der letzte durch Westberlin war, ohne dass es jemand wusste. Die ganze historische Aufladung wird klar in einem Bild: 1989 starteten wir auf der Straße des 17. Juni mit dem Brandenburger Tor im Rücken, liefen also von ihm weg. Ein Jahr später liefen wir auch dort los, aber in die entgegengesetzte Richtung – also mittendurch.
Als Läufer war ich 1990 vom Osten enttäuscht. Die Westberliner hatten uns immer mit Jubel verwöhnt, standen in Massen an der Strecke. Als wir jetzt in den Osten kamen, beachtete uns kaum jemand. Vielleicht waren die Leute einfach müde vom Klatschen, weil sie Honecker immer zujubeln mussten. Heute kennt die Begeisterung beim Marathon keine Grenze mehr.
So befreit wie 1989 bin ich nie wieder gelaufen. 1990 nämlich explodierten die Teilnehmerzahlen, von rund 16.000 auf 25.000 Läufer. Das kostete schon am Start viel Zeit, weil die Zeit noch nicht individuell per Chip gemessen wurde. 3:00:46 bin ich 1989 gelaufen. Da bin ich – Chip hin, Chip her – nie wieder rangekommen.
Am Sonntag laufe ich meinen 18. Berlin-Marathon. So kitschig das vielleicht klingt, aber dieser Lauf hat mir als Zugezogener ein Stück Heimat gegeben, ist zu einer Konstante in meinem Berliner Dasein geworden. Das ist wohl einer der beiden Gründe dafür, dass ich noch jedes Mal unter Spannung stehe. Der andere ist, dass ich die Stadt bei jedem Lauf neu erlebe. Die Veranstalter verändern ja zum Glück die Streckenführung gelegentlich. Und geben mir damit beim Laufen immer mal wieder Rätsel auf: Wo bin ich jetzt eigentlich? Im Westen? Osten? Tiergarten? Mitte? Kreuzberg? Das geht ja ständig hin und her. Da kann man auch als Berliner schon mal den Überblick verlieren.“ PROTOKOLL: DAVID DENK