: Verbotene Liebe zwischen Rothirschen
Die Landesjägerschaft Schleswig-Holstein schlägt Alarm, weil die genetische Vielfalt bei den Rothirschen geringer wird. Abhilfe schaffen soll die Vernetzung ihrer Lebensräume

Von Friederike Gräff
Bislang sieht man den Tieren selten etwas an. Ganz gelegentlich melden Jäger:innen, dass sie Rothirsche mit verkürztem Unterkiefer geschossen haben oder Rothirschkälber, die keine Augen haben. Aber glaubt man dem Landesjagdverband, dann steht es schlecht um die Rothirsche in Schleswig-Holstein. Alarmierend schlecht. Und was es nicht besser macht: In den anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus.
Die genetische Vielfalt der Rothirsche wird immer geringer. Oder anders gesagt: Es gibt immer mehr Inzucht bei den Rothirschen, weil sich die Rudel durch die vielen Straßen und die Zersiedelung der Landschaft nicht mehr begegnen. Der Zusammenhang leuchtet ein, seit einiger Zeit ist er auch wissenschaftlich bestätigt. Zuletzt hat ihn die Wildbiologin Katharina Westekemper in ihrer Doktorarbeit an der Uni Göttingen anhand von rund 1.100 genetischen Proben nachgewiesen: Je geringer die Bewegungsmöglichkeit der Tiere, desto geringer die genetische Vielfalt.
In Fachkreisen diskutiert man seit den 90er-Jahren darüber, nun hat der Landesjagdverband Schleswig-Holstein öffentlichkeitswirksam Alarm geschlagen. „Der Rothirsch braucht Hilfe“ heißt die dazugehörige Pressemitteilung und dass die genetischen Werte in vielen Populationen bundesweit so hoch seien, „als würden sich Halbgeschwister paaren – nach menschlichen Maßstäben illegal“. Auf einem Zukunftsforum in Neumünster Anfang Mai wollte man nach Lösungen suchen. Organisiert hat das Forum der Wildbiologe und Jäger Frank Zabel, und fragt man ihn nach den Erfolgen, dann klingt er eher verhalten.
Zwar arbeitet das Land Schleswig-Holstein bereits an einem Wildwegeplan, der „eine nachhaltige Koexistenz zwischen Wildtieren und Menschen“ ermöglichen soll. Die Idee ist, die zerschnittenen Lebensräume der Rothirsche – aber auch anderer Wildarten – wieder zu vernetzen, etwa durch Wanderkorridore oder durch Querungen über Straßen.
„Ein schöner Anfang“, sagt Frank Zabel. „Aber es mangelt an finalem Schutz. Die Wanderkorridore müssen rechtlich vor weiterer Bebauung geschützt werden.“ Für den Landesjagdverband hat Zabel federführend einen Rotwildwegplan erstellt, um die Wanderkorridore der Rothirsche zu bestimmen. Demzufolge verlaufen 27 Prozent der Strecke durch Schutzgebiete, Teile führen durch den Wald, es bleiben 56 Prozent komplett ohne Schutzstatus.
„Das Rotwild will eigentlich von Norden nach Süden ziehen“, sagt René Hartwig vom Landesjagdverband. „Deswegen ist Schleswig-Holstein eigentlich ein Transitland.“ Und dann fügt er hinzu: „Heute eher für Autos.“ Im Rotwildwegeplan heißt es mit durchaus kritischem Unterton, dass die Gesamtlänge der Rotwildwechsel theoretisch bei knapp 1.600 Kilometer liege, in der Praxis aber deutlich geringer, da dort mehrere Querungsmöglichkeiten addiert wurden. Und dann: „Zum Vergleich, derzeit wird Schleswig-Holstein von gut 500 km Autobahnen, 1.428 km Bundesstraßen und 1.060 km Bahntrassen zerschnitten.“ René Hartwig sieht in der Jägerschaft ganz grundsätzlich „Anwältinnen und Anwälte des Wildes. Nicht nur für die, die wir aktiv bejagen“.
Finden sich gerade ganz neue Allianzen zwischen Jägerschaft und Naturschützer:innen aus anderen Milieus? Matthias Goerres, Referent für Naturschutz beim BUND, ist sich einig mit der Jägerschaft, dass es darum gehe, Lebensräume stärker zu vernetzen. Er setzt dabei auch auf das europäische „Restoration Law“, nach dem Deutschland bis 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen wiederherstellen muss. Aber: „Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass die neue Regierung Straßenbau bevorzugen wird“, sagt Goerres. Und in Richtung Jäger:innen: „Die Jägerschaft erreicht ihre Reviere selten mit Bus und ÖPNV.“
Frank Zabel, Landesjagdverband Schlewsig-Holstein
Bislang war die Landesjägerschaft nicht besonders prominent im Widerstand etwa gegen die geplante Küstenautobahn. Dabei hört man, dass ihre Stimme Gewicht hat in der Politik. Derzeit scheint in den Behörden aber umgedacht zu werden. Deutschland ist europaweit das einzige Land, in dem es in einigen Bundesländern feste Rotwildgebiete gibt. Sobald die Tiere diese Gebiete verlassen, gilt ein Abschussgebot. Die Regelung wurde in den 1950er-Jahren eingeführt, um die Tiere von landwirtschaftlichen Flächen fernzuhalten. De facto bedeutet es, dass Tiere, die eigentlich das Offenland suchen, in den Wald gedrängt werden, wo sie notgedrungen auch Baumknospen fressen. Das wiederum ruft die Forstwirtschaft auf den Plan.
In Baden-Württemberg hat jüngst der zuständige CDU-Minister angedeutet, dass er die Rotwildgebiete für eine schlechte Idee hält. „Nicht die Rotwildgebiete sind das Problem, sondern die Besiedlungsbarrieren, die den physischen Austausch behindern“, sagte er der Zeitschrift „Pirsch. Respekt vor dem Wilden“.
Katharina Westekemper hat am Ende ihrer Dissertation Forderungen aufgelistet, um die Zukunft des Rotwilds zu sichern. Eine davon hat die Jägerschaft Schleswig-Holstein schon im Rotwildwegeplan übernommen: die Jagd auf Rotwild entlang der Wanderkorridore zu verbieten. Westekemper hat noch weitere Vorschläge. Eine weitere: den öffentlichen Nahverkehr auszubauen.
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