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Archiv-Artikel

VON SCHNEEMÄNNERN UND DEPRESSIVEN TANNENBÄUMEN Die Story kenn’ ich schon

VON LEA STREISAND

Es lohnt sich nicht, sich aufzuregen, sie kommen sowieso. Immer wieder, jedes Jahr: Weihnachtsgeschichten. Sie heißen: „Alle Jahre wieder“. Sie fangen an mit: „Es begab sich aber zu der Zeit“. Sie handeln von Gänsen und Tannenbäumen, Nussknackern und Mausekönigen, Weihnachtsgeistern und Engeln, die „Frieden“ flüstern. Sie sind witzig und traurig, romantisch und sozialkritisch, mit und ohne Happy End. Und sie sind alle schon erzählt, weshalb mir für meine Weihnachtskolumne nichts mehr einfällt. Schuld sind hauptsächlich folgende Autoren:

1. Martin Luther: „Die Bibel, Teil II“. Mittellose Kleinfamilie muss aus verwaltungstechnischen Gründen die Strapazen einer beschwerlichen Reise auf sich nehmen, obwohl sich die Gattin in anderen Umständen befindet. Das Pikante daran: Ihr Gatte, ein arbeitsloser Zimmermann, ist nicht der KV. Luther ist seit 500 Jahren tot, aber sein Bestseller findet immer noch reißenden Absatz. Die Story ist so oft verbraten worden – mir fällt dazu nichts mehr ein.

2. Friedrich Wolf: „Die Weihnachtsgans Auguste“. Ein egozentrischer Opernsänger kauft seiner Familie zu Weihnachten eine lebendige Gans. Die soll zum Fest auf den Tisch. Der Sänger hat aber nicht mit der Tierliebe seiner Angehörigen gerechnet. Denn die Zubereitung eines Vogels mit Klößen und Rotkohl setzt den Tod desselben voraus. Es entbrennt ein Weihnachtsstreit, der zugunsten der Gans ausgeht, die, bereits splitternackt gerupft, einen Pullover gestrickt bekommt und lebendig am Weihnachtsfest teilhaben darf. Ein klassisches Familiendrama um den Sturz des Patriarchats und den Aufstieg des Vegetarismus. Wurde schon tausendmal erzählt.

3. Hans Christian Andersen: Diverse todtraurige Weihnachtsgeschichten um erfrierende Kinder, Mesalliancen zwischen Schneemann und Kachelofen und depressiven Tannenbäumen. Walt Disney hat „Arielle“ gedreht und Castorf die „Schneekönigin“ inszeniert. Da muss ich nicht auch noch meinen Senf dazu geben.

4. E. T. A. Hoffmann: „Der Nussknacker“. Frühreifes junges Mädchen verliebt sich in älteren kleinwüchsigen Mann mit Überbiss. Zur Pädophiliedebatte habe ich nichts beizutragen.

5. Charles Dickens: „A Christmas Carol“. Geiziger alter Sack wird zu nachtschlafender Stunde von drei Geistern heimgesucht und vom Kapitalistenschwein zum Weihnachtsmann umgepolt. Ist mir zu unrealistisch. Ich glaube nicht an ganzheitlich gute Menschen. Ich glaube höchstens an solche, die vor lauter Weihnachtsstress vergessen, fies zu sein. Aber das gibt sich wieder. Wenn die Tannenbäume am 6. Januar mit den guten Vorsätzen entsorgt werden, bekommen wir schließlich auch nichts mehr geschenkt.

Irgendwo im gelobten Land Amerika soll es ein Dorf geben, da hat der Kalender nur drei Tage: den 24., den 25. und den 26. Dezember. Extrem Weihnachting sozusagen. Also hört auf zu jammern und freut euch, denn bald nun ist Weihnachtszeit und danach ist hierzulande erst mal Ruhe.

Mindestens bis Ostern. Über Ostern gibt es übrigens viele Geschichten, aber die sind auch alle schon erzählt. Zum Beispiel „Der kleine Angsthase“, da geht es um einen Hasen, der … ach, is’ doch Wurscht! Denn ich muss jetzt eine Weihnachtsgeschichte schreiben und mir fällt absolut nichts dazu ein.