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Archiv-Artikel

VON GERÖSTETEN EICHHÖRNCHEN, SITZENDEN KNASTANIEN, BRENNENDEN KAMINCHEN UND DAUERGRINSENDEN STADTMAGAZINVERKÄUFERN Wie im falschen Film

VON ULI HANNEMANN

Eigentlich möchte ich bei ihm schon lang nicht mehr kaufen, aber sein Standort ist so praktisch, dass ich noch nicht mal vom Rad absteigen muss. Bei ihm: dem ambulanten Verkäufer des Stadtmagazins Zitty, der jeden zweiten Dienstag im Görlitzer Park steht, genau an der Stelle, an der ich vorbeimuss.

Der Mann hat im Wesentlichen zwei grobe Haken, respektive Vollmeisen: Zum einen lacht er stets freundlich; schon allein das ist mir zutiefst suspekt. Als Deutscher, als Berliner, als Protestant. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich glaube nicht an Gott, bin kein gebürtiger Berliner und auch kein Nazi. Was ich meine, ist eher diese einzigartige Mischung aus klemmig, versoffen und pedantisch. Mein Wesen ist so deutsch, dass ich beim Fahrradfahren eigentlich eine Pickelhaube tragen müsste.

Doch die Mentalität hat auch unbestreitbar ihre Vorteile, denn sie versetzt mich in die Lage „gute Laune“ und „Leutseligkeit“ als das zu erkennen, was sie sind: galoppierender Schwachsinn und fehlende Distanz. Denn es ist ja nicht nur das blöde Grinsen. Sondern viel schlimmer. Jedem, der bei ihm ein Heft kauft, zwingt er „zum Dank“ einen kurzen Witz auf. Wenn man Glück hat. Wenn man Pech hat, sind es zwei kurze Witze. Heute habe ich Pech, denn aus Höflichkeit (die Tugend der Faulpelze, Feiglinge und Opportunisten) lasse ich mir die Zumutung gefallen. „Was ist braun und sitzt hinter Gittern?“ „Weiß nicht. Eichhörnchen“, sage ich lustlos und denke: „Mein Gott, mach schneller!“ – „Eine Knastanie.“ – „Okay.“ – „Und jetzt noch ein kurzer.“ – „Bitte nicht.“ – „Also gut. Meinetwegen: Was brennt und hüpft durch den Garten?“ – „Hm. Eichhörnchen.“ – „Nein. Ein Kaminchen.“

Erstaunlich, wie viele Menschen, die über weniger Herz und Verstand als ich verfügen und daher unrealistischen Kitsch mit echten Gefühlen verwechseln, in einem Film à la „Die fabelhafte Welt der Anomalie“ oder „Die Liebenden von Pont Neuf“ ebensolche Typen „unheimlich toll und erfrischend“ fänden. „Unverfälschte Originale“, die das Leben nicht korrumpieren konnte – es ist nur an ihnen vorübergegangen –, und das Publikum ist gerührt von diesen „Lebenskünstlern“, die der blasierte Regisseur im echten Leben selbst nicht mit der Kneifzange angefasst hätte: winkende Zwerge in karierten Hosen. Inkontinente Auguren, die Augenkrankheiten mit Wasserskikursen heilen. Dauerlächelnde Stadtmagazinverkäufer, die Witze erzählen.

Das echte Leben ist aber nun mal kein traumverzauselter französischer Film. Im echten Leben stehlen einem die „herrlich kauzigen Gestalten“ echte Lebenszeit, und ihr Grinsen geht einem auf die Nerven. Es gibt im echten Leben nämlich nichts zu grinsen. So klar kann und muss man das sehen. Ob der offenkundige Kontrollverlust an Drogenmissbrauch, Alkoholismus oder einer irreparablen Schädigung des Schamzentrums im Gehirn liegt, ist dabei nebensächlich.

Auch bin ich mir sicher, dass solche „unabhängigen Freigeister“ gerade wegen ihrer Unabhängigkeit von Gewohnheit, Geist und Sitte jederzeit kippen können: In der harmloseren Variante schreien sie vermutlich stundenlang grundlos aus dem Fenster ihrer Parterrewohnungen oder onanieren in einem fort in leere Schnapsflaschen. In der weniger harmlosen fangen sie Eichhörnchen mit selbst gebastelten Drahtschlingen und rösten sie bei lebendigem Leibe über einem Feuer aus abgelaufenen Stadtmagazinen.

Davon möchte ich mich gern mittelfristig distanzieren. Ich weiß ja eh nicht, warum ich nur für eine Seite „Didi und Stulle“ jedes Mal 3 Euro 50 bezahle.