VILLAGE VOICE: Berlin, Balladenform geworden
■ »Tightrope Walk« — Das Plattendebüt der Pariahs
Erst haben die Angelsachsen den Barden aus Nashville das Liedgut unbekümmert abgenommen und schnöde verpopt. Jetzt nehmen sich deutsche Bands den anglizistisch transformierten Country-Song vor. Die Jeremy Days machen die folgende U2-LP, noch bevor Bono & Co. zum Proben ins Studio gehen, das halbe Rheinland spielt den Rave wie in Manchester. Und nun die Berliner Pariahs: Postcard Label revisited, kein Song, der nicht die liebevolle Brillanz eines Monochrome-Set-, Orange-Juice-, manchmal auch Aztec-Camera-Songs besitzt. Oder die bleiche Melancholie von Tracy Thorn und Ben Watt.
Soweit die achtziger Jahre im Aufwind 1992. Wenn man auf so viel massive Geschichte leichtfüßiger bis schwer depressiver Gitarrenbands blicken kann, liegt es nahe, an der Band vorbeizuhören. Doch die Pariahs setzen der Vergangenheit Grenzen. Indem die Arrangements neben den besagten Verweisen eine Vielzahl von seltsam fiependen Gitarrenslides und allerhand psychedelischem Feedback mittransportieren, unterhöhlen sie die schnöde Eleganz ihrer englischen Vorbilder mit dem wiederum auch typischen Deutschpop-Flair. Das ist das Balladenform gewordene Berlin, in dem der Frust sich wie bei der Grundierung einer Leinwand einschleicht und immer aus der Tiefe heraus agiert, so wie auch Hacke sich bei Crime & The City Solution immer nur schwer beherrschen kann, nicht infernalisch krachend auszubrechen. Die Pariahs gehen mit dem aggressiven Geräusch bloß ungleich dezenter um. Mehr Schubert als Wagner. An den lauten Stellen könnte es im nächsten Moment Acoustic-Core werden, doch dafür sind die drei Musiker andererseits zu notistisch fixiert. Da wurde zwar nicht vom Blatt gespielt, aber genauso wenig im Probenraum komponiert, weshalb ein Stück wie »I run away« eine fast kammermusikalisch poppende Schönheit entfaltet, bei der auch Costello/McCartney hätten Hand angelegt haben können. Nicht nur Lennon.
Dementsprechend bildet der Wohlklang auch die größte Gefahr, durch die The Pariahs immer am Rand zur übertriebenen Süße entlangschliddern, die allerdings ihr Gegenteil erzeugt. Es brennt in den Ohren, der Song scheint stillzustehen. »That's A Bargain« wäre LSD geworden, hätte die Band den richtigen Zuckerwürfel aufgelöst. Nun ist das Lied verwirrend, aber eben nicht zwingend durchgeknallt. Komischerweise funktionieren die Spielmittel gerade bei der schweren Loner-Ballade »Tightrope Walk« und beim letzten hingehauchten »An Ocean Wild 2«, bei dem Sänger Ralph Guhlke und Bassist Michael Herden beinahe verlöschend knabenhaft neben dem Klavier zusammen singen. Dann fallen Konzertanz und Charme in eins. Harald Fricke
The Pariahs: »Tightrope Walk«, Civil Dust Company
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