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Archiv-Artikel

VERSTAATLICHUNG – BOLIVIEN NUTZT DIE GUNST DER STUNDE Selbst die Macht des IWF verblasst

Kaum ein Land auf der Welt hat eine solch brutale Geschichte der Ausbeutung hinter sich wie Bolivien – von den geplünderten Reichtümern des Silberberges Potosí bis zu den ungerechten Mechanismen des Erdgasexports. Es ist ein Akt der Demokratie, wenn Boliviens Präsident Evo Morales am 1. Mai die Nationalisierung der Erdgasvorkommen des Landes verkündete und den internationalen Energiekonzernen mit strengen Auflagen das Geschäft vermiest. Die Gelegenheit dafür ist so günstig wie nie zuvor. Die Energiepreise sind hoch, der Bedarf ist riesig und die Legitimität seiner Regierung anerkannt.

Dennoch drohen bei einem solchen Schritt Gefahren. Kapitalflucht, Missmanagement, Machtmissbrauch und Korruption haben in der Geschichte lateinamerikanischer Verstaatlichungsbemühungen schon mehr als eine Katastrophe verursacht. Und selbst wenn die Unterstützung durch Venezuelas Präsident Chávez stark ist, sind es doch bisher nur wenige Länder, die sich gegenseitig politische und ökonomische Hilfe versprechen: Venezuela, Kuba, Bolivien, eingeschränkt Argentinien und nach den kommenden Wahlen vielleicht auch Peru. Demgegenüber stehen die sozialdemokratisch orientierten Linksregierungen Lateinamerikas in Chile, Brasilien, Uruguay. Und natürlich die Rechten, allen voran Kolumbien.

In Lateinamerika haben sich in den letzten Jahren neue soziale und politische Akteure herausgebildet, die die Freiheit, die insbesondere durch das plötzliche Desinteresse der USA an der Region entstanden war, bestens zu nutzen verstanden. Und die Episode „Das Imperium schlägt zurück“ ist diesmal schwer in Szene zu setzen. Denn die Macht des Internationalen Währungsfonds, bislang das zuverlässigste Instrument Washingtons, Abtrünnige in die Schranken zu verweisen, verblasst gegenüber der neuen Macht der Energieressourcen. Diese in den Händen von Bevölkerungsmehrheiten – eine wirklich schöne Vorstellung, die ganz neue Entwicklungsperspektiven eröffnet. Aber auch eine große Verantwortung für die beteiligten Regierungen. BERND PICKERT